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Ansgar Felbecker im Interview

Hoffnungsschimmer für Alzheimer-­Patienten?

Der Wirkstoff Lecanemab gibt Anlass zu grossen Hoffnungen bei der Bekämpfung von Demenz. Noch in diesem Jahr könnte ein Medikament in der Schweiz zugelassen werden. Im Gespräch mit Dr. Ansgar Felbecker, Demenz-Spezialist und Leiten­der Arzt für Neurologie am Kantonsspital St. Gallen.

Astrid Nakhostin am 01. Juni 2024

Weltweit sind nach Angaben der WHO (World Health ­Organization) derzeit mehr als 55 Millionen Menschen an Demenz erkrankt. Jährlich kommen etwa zehn Millionen hinzu. Allein in der Schweiz leben schätzungsweise gegen 153 000 Menschen mit Demenz. Eine Zahl, die jedes Jahr um knapp 33 000 Neuerkrankungen (Stand 2023) zunimmt. Allein die privat finanzierten ­Betreuungskosten in der Schweiz betragen aktuell rund 6 Milliarden Franken, 0,5 Milliarden weitere Kosten kommen hinzu. Seit Jahrzehnten suchen Forscherteams auf der ganzen Welt nach einem Medikament gegen das krankhafte Vergessen – ­bislang ohne durchschlagenden Erfolg.

Neue Wirkstoffe namens Lecanemab und Donanamab geben nun Anlass zu grosser Hoffnung. Lecanemab ist im Medikament Leqembi enthalten, das seit vergangenem Jahr bereits in den USA und in einigen weiteren Ländern (z. B. Japan, China) zur Bekämpfung von Alzheimer eingesetzt wird. In der Schweiz soll das Medikament, dessen genauer Name noch nicht bekannt ist, noch im Laufe dieses Jahres zugelassen werden.

Herr Dr. Felbecker, Sie vergleichen Demenz mit einem Eisberg. Wie ist das zu verstehen?

Beim Eisberg ist nur ein kleiner Teil des gesamten Volumens über Wasser sichtbar – genauso verhält es sich bei der Demenz: Der «sichtbare» Teil, nämlich die klinischen Symptome, kommen erst spät im Verlauf der Erkrankung und spiegeln nur einen kleinen Teil der in Wahrheit betroffenen Hirnareale wider. Ein Grossteil der Erkrankung spielt sich unter dieser sichtbaren Oberfläche ab. Das Gehirn ist viel früher und ausgedehnter betroffen, als man meint.

Welche Arten von Demenz gibt es?

Die häufigste Demenzursache ist die Alzheimererkrankung. Sie ist für ca. 60 Prozent aller Fälle verantwortlich. Daneben gibt es zum Beispiel die frontotemporale Demenz oder die Demenz bei Parkinsonerkrankungen. Und wir kennen noch viele weitere, eher seltene Ursachen.

Wie entsteht Alzheimer?

Sicherlich spielen zwei Proteine eine wichtige Rolle: Amyloid und Tau. Amyloid lagert sich ausserhalb der Hirnzellen ab, Tau überwiegend innerhalb. Beide führen dazu, dass Denkprozesse nicht mehr normal stattfinden können. Bezüglich der Entstehung der Erkrankung streiten sich die Experten weiterhin, welcher Prozess am Anfang steht und welcher wichtiger für das Fortschreiten ist. Es gibt hierzu zwei Hypothesen: Die Tau-Hypothese, die besagt, dass Tau früher und schlimmer ist, und die Amyloid-Hypothese, der zufolge Amyloid der «Haupt-Übeltäter» ist. Vermutlich haben aber einfach beide recht und der Streit erübrigt sich glücklicherweise.

In welchen Fällen von Demenz wird das in den USA und Japan unter dem Namen Leqembi bereits zugelassene Medikament erfolgversprechend eingesetzt?

Leqembi greift die Amyloid-Pathologie an und führt dazu, dass Amyloid-Ablagerungen im Gehirn abgebaut werden und keine neuen entstehen. Es wirkt ausschliesslich bei der Alzheimererkrankung und hier auch nur in frühen Stadien. Es ist wichtig zu wissen, dass hiermit die Erkrankung nicht geheilt oder gestoppt werden kann. Das Ziel ist eine Verzögerung – die Patienten sollen mehr Lebenszeit in einer Phase mit noch recht guter Lebensqualität erhalten. Dies ist nämlich in den frühen Stadien der Demenz meistens möglich.

Wie sieht es mit den Nebenwirkungen aus?

Neben einigen «harmlosen» Nebenwirkungen, wie Reaktionen auf die Infusionen, kam es bei allen Medikamenten dieser Art bei einigen wenigen Patienten zu Hirnschwellungen und kleinen Hirnblutungen. Sie machten meist keine Symptome, wenn man sie früh mittels MRI erkannte. Da diese Nebenwirkungen überwiegend in den ersten Wochen der Behandlung auftreten, sind in diesem Zeitraum z.B. in den USA Routine-Kontrollen mittels MRI zwingend vorgeschrieben. Ernste Nebenwirkungen traten in einer Grössenordnung von zwei bis drei Prozent auf, was aus medizinischer Sicht ein durchaus vertretbarer Wert ist. Solange die Medikamente halten, was sie hinsichtlich der Wirkung versprechen!

Warum dauert die Zulassung solcher Medikamente in der Schweiz länger als beispielsweise in den USA und wann kann damit gerechnet werden, dass es auch hierzulande eingesetzt wird?

Die Gründe hierfür sind vielschichtig – meistens werden die Produkte zunächst in den USA eingereicht, weil dies schlicht der grösste Markt für Arzneimittelfirmen ist. Und so ein Zulassungsantrag ist von Land zu Land verschieden und damit jeweils ein enormer Aufwand für die Firmen. Auch die internen Prozesse der Behörden unterscheiden sich. Ob und wann diese neuen Medikamente in der Schweiz zugelassen werden, kann ich heute noch nicht beantworten. Wir hoffen aber auf einen Entscheid noch im Jahr 2024.

Wie hoch sind die Behandlungskosten und kann davon ausgegangen werden, dass die Kassen diese Kosten übernehmen werden?

Auch das ist bisher Spekulation, da die Preisverhandlungen je nach Land unterschiedlich laufen. In den USA kostet Leqembi ca. 26'000 Dlrs pro Jahr, hinzu kommen die Kosten für die zweiwöchentlichen Infusionsbehandlungen, radiologische Diagnostik etc. Diese Preise decken neben den Produktionskosten natürlich auch die Entwicklungskosten der forschenden Pharmafirmen ab. Ob sie gerechtfertigt sind? Das hängt vom Erfolg ab. Wenn das Medikament den Pflegeheim-Eintritt eines Demenzpatienten im Durchschnitt 1 Jahr nach hinten verschieben könnte, wäre der Preis richtig günstig. Und ob die Kosten in der Schweiz von der Grundversicherung übernommen werden, muss nach der Zulassung das BAG klären. Dieses ist für die Aufnahme neuer Arzneien auf die Spezialitätenliste zuständig und kann dabei auch «Limitationen» festlegen.

Stimmt es, dass Alzheimer bereits 15 Jahre vor dem Ausbruch diagnostiziert werden könnte?

Jein. Zumindest erste Ablagerungen (meist das Amyloid) könnten wir in vielen Fällen wohl so früh messen. Aber das heisst noch nicht, dass die Erkrankung zwingend klinisch sichtbar wird. Dafür muss aus dieser «Veranlagung» ein sich ausbreitender Prozess werden. Meist hängen diese zwei Schritte aber zusammen und von daher ist die Aussage nicht falsch.

Hat eine solche Früherkennung therapeutische Konsequenzen für die Betroffenen?

Stand heute noch nicht. Es gibt noch keine Ergebnisse von Studien, welche die neuen Medikamente bei Menschen ohne Symptome untersucht hätten. Aber solche Studien laufen. In einigen Jahren kann ich Ihnen diese Frage vielleicht besser beantworten.

Im Filmdrama «Still Alice» spielt Julianne Moore eine an Alzheimer erkrankte Literaturprofessorin. Im Laufe des Films wird gezeigt, dass ihre Kinder genetisch bedingt gefährdet sind, ebenfalls an Alzheimer zu erkranken. Ist diese Krankheit tatsächlich vererbbar?

Da muss man zwei Dinge unterscheiden: Im engeren Sinne vererbbar (von Generation zu Generation) ist höchstens ein Prozent der Alzheimerfälle. Dann sind oft mehrere Familienmitglieder schon sehr früh (unter 65 Jahren) betroffen gewesen. Was es aber gibt, ist ein sogenanntes Risikogen, das ApoE4-Gen. Wenn man von diesem zwei Allele hat (also homozygot ist), hat man ein massiv erhöhtes Alzheimerrisiko. Und diese Veranlagung wird auch vererbt.

Welche sind die Risikofaktoren bei der Entstehung von Demenz?

Der wichtigste Risikofaktor ist immer noch das Alter – wer über 90 wird, hat ein 30-45prozentiges Demenzrisiko. Ansonsten zählen Risikofaktoren wie die bekannten «vaskulären» Risikofaktoren auch bei der Demenz, zudem spezifische Dinge wie ein niedriges Bildungsniveau, eine Hörminderung, soziale Isolation oder auch Depression. Aber die Mehrzahl der Demenzfälle ist eben nicht durch solche Risikofaktoren bestimmt, sondern nach heutigem Kenntnisstand schlicht «Schicksal».

Warum ist Prävention so wichtig?

Durch Prävention könnten wir die genannten Risikofaktoren reduzieren und so zumindest einen Teil der Demenzfälle verhindern oder hinauszögern. Das würde auf Gesellschaftsebene schon einen grossen Unterschied machen, wenn wir 20 oder 40 Prozent Fälle weniger hätten!

Gibt es bereits weitere Wirkstoffe, eventuell mit einem anderen Therapieansatz, die derzeit erforscht und eventuell bald zugelassen werden?

In der Forschung befinden sich zahlreiche weitere Wirkstoffe, aber keiner ist momentan so weit wie die Antikörper gegen Amyloid. Eine grosse Hoffnung wird in die Entwicklung von Tau-Therapien gesetzt, die den Prozess der Alzheimererkrankung vielleicht effektiver aufhalten könnten.

Inwiefern können auch (noch) nicht Betroffene zur Alzheimer-Forschung beitragen?

Die Demenzforschung ist auf interessierte Freiwillige angewiesen. Diese können sich kostenlos bei dem «Swiss Brain Health Registry» (link) registrieren. Dies ist ein gemeinsames Projekt mehrerer grosser Schweizer Memory Kliniken. Die Teilnahme ist unverbindlich. Man erhält hierüber viele Informationen und wird informiert, sobald Studien starten, welche in der Region und bezüglich Symptome auf das Profil des Teilnehmers passen könnten.

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Autor/in
Astrid Nakhostin

Astrid Nakhostin (1959), freischaffende Journalistin, hat Betriebswirtschaftslehre studiert und war 26 Jahre lang als Marketingleiterin bei St.Gallen-Bodensee Tourismus tätig. Die letzten fünf Jahre gehörte sie dem Redaktionsteam des Swissregio Media Verlags an, zuletzt als Redaktionsleiterin der Bodensee Nachrichten.

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