Christine Müller-Hottinger.
Seitdem der Wolf zurück ist, spalten die Tiere die Schweizer in zwei Lager. Die Ostschweizerin Christine Müller-Hottinger setzt sich als Aktiv-Mitglied von CHWolf für den Verbleib der Wölfe ein. Und erklärt im Interview, weshalb ein friedliches Miteinander möglich sei.
Sie engagieren sich bei «Ein Wolf macht Schule» oder als Aktiv-Mitglied bei CHWolf. Was fasziniert Sie so an den Tieren?
Christina Müller-Hottinger: Faszinierend finde ich an Wölfen, dass sie gegenüber uns Menschen sehr ähnlich sind und sie so leben wie wir – in Familienstrukturen. Wölfe sind liebevoll innerhalb ihrer Familie und kümmern sich sehr um ihren Nachwuchs. Wolfsfamilien haben Grundregeln: Kümmere dich um deine Familie, sorge dich um die, die dir anvertraut sind, gib niemals auf und höre nie auf zu spielen. Das finde ich vorbildlich, denn es gibt innerhalb der Wolfsfamilie keine Häusliche Gewalt oder Missbrauch. Da können wir Menschen sogar noch einiges über sie lernen. Jungwölfe verlassen in der Regel nach ein oder zwei Jahren ihre Familie, suchen sich ihr Territorium, finden einen PartnerIn und gründen ihre eigene Familie – eben so, wie es bei uns Menschen passiert. Eigentlich ist uns kein anderes Tier in seinem Wesen und sozialem Umgang so nahe wie der Wolf. Wölfen achten auf unsere Natur. Ein altes Sprichwort sagt: «Wo ein Wolf lebt, wächst der Wald und bleibt gesund!»
Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie mit den Tieren?
Müller-Hottinger: Vor Jahren hatte ich ein spezielles Erlebnis, als ich in der Nähe von Wien im Wolfforschungszentrum zu den Wölfen ins Gehege durfte. Dass sich mir die Wölfe näherten, mir vertrauten – ich wurde sogar geküsst von einem Wolf – berührte mich tief. Vor allem auch, weil Wölfe uns mit ihrem Verhalten aufzeigen, wer wir sind.
Dennoch gibt es nach wie vor viele Gegner von Wölfen. Wo engagieren Sie sich, damit das Verständnis für den Wolf weiter wächst?
Müller-Hottinger: Nebst dem Verein CHWOLF engagiere ich mich beim Projekt «Ein Wolf macht Schule». Dies gibt es seit Januar 2018 und wurde vom Verein CHWOLF und GWS (Gruppe Wolf Schweiz) ins Leben gerufen. Kindern und Jugendlichen Wissen zu vermitteln, liegt mir sehr am Herzen. Denn: Wo Wissen ist, entsteht Interesse und Verständnis. Das ist nötig, um den freilebenden Wölfen in der Schweiz eine Chance zu geben. Diese Aufklärungsarbeit mache ich auch seit 2012 beim WWF. Als Exkursionsleiterin organisiere und leite ich «Wolfstage und Abende» für Kinder, Familien und Erwachsene.
Können Sie die Ängste der Gegenseite nachvollziehen?
Müller-Hottinger: Menschen, die Angst vor dem Wolf haben, zu mir kommen und darüber reden wollen, da höre ich hin. Das interessiert mich. Was löst bei ihnen «Angst» aus und woher kommt sie? Vielfach sind es schaurige Geschichten, die sie über den «bösen Wolf» erzählen. Oder sie haben in den Medien Schlagzeilen gelesen, wie gefährlich und schlimm Wölfe sind. Es ist ein sehr emotionales Thema und löst individuell verschiedene Gefühle aus.
Was entgegnet man diesen?
Müller-Hottinger: Da braucht es viel Aufklärungsarbeit und sicherlich auch ein Umdenken bei den Menschen. Der Wolf frisst weder eine Grossmutter noch das Rotkäppchen. Auch in Hollywood-Filmen wird der Wolf in einem falschen Licht gezeigt. So verhält sich kein Wolf in der Wildnis! All diese Märchen und Mythen, die den Wolf als Sündenbock oder Bestie darstellen, sollten wir verweisen. Ich finde, es ist an der Zeit, neue Geschichten über den Wolf zu schreiben, die ihm gerecht werden. Schwieriger finde ich es, wenn Menschen partout gegen den Wolf sind, in sozialen Medien Meinungen verbreiten, die gar nicht stimmen und meinen, er müsse reguliert und abgeschossen werden – oder er hätte keinen Platz in der Schweiz! Das ist weder positiv noch lösungsorientiert. Diese Art Kommunikation finde ich eher bedenklich und sehr respektlos.
Was müsste denn erreicht werden, dass ein friedliches Miteinander möglich ist?
Müller-Hottinger: Ein friedliches Miteinander wäre sicher möglich, wenn der Mensch dazu bereit ist, den Wolf zu akzeptieren und wenn die SchweizerInnen das Thema «Wolf» nicht emotional, sondern sachlich betrachten. Dann können Lösungen gefunden werden, die es ermöglichen, Mensch, Wolf und Nutztiere nebeneinander leben zu lassen. Vor langer Zeit war der Wolf das am weitesten verbreitete Landraubtier der Erde und das erste domestizierte Tier der menschlichen Geschichte. Daraus gab es dann später mal den Hund. Das war vor über 30`000 Jahren. Seitdem der Mensch sesshaft wurde, schaut er den Wolf als Konkurrenz an, er wurde in der Schweiz sogar ausgerottet. Das heisst, wir lebten eine lange Zeit ohne Prädatoren (Raubtiere). Wenn wir mit Wölfen friedlich leben wollen, dann müssen wir Menschen wissen, wie eine Wolfsfamilie lebt und sich verhält, aber auch, wie wir uns verhalten sollen. Zudem müssen wir neu lernen, unsere Nutztiere zu schützen.
Wie sähe das aus?
Müller-Hottinger: Auf einigen Alpen funktionieren die Herdenschutzmassnahmen sehr gut, auch wenn ein Wolfsrudel in der Nähe wohnt. Ein Beispiel möchte ich mitgeben: Im Calanda Gebiet lebt seit 2012 das erste Wolfsrudel. Die diversen Schafherden, welche im Wolfterritorium gesömmert werden, werden alle mit guten Herdenschutzmassnahmen geschützt. Deshalb bringen die Leitwölfe der Wolfsfamilie, also die Eltern, ihren Welpen und Jungwölfen bei, dass Elektrozäune tabu sind und Schaffleisch nicht fein ist. Das positive Verhalten nehmen die Jungwölfe mit, wenn sie das Rudel verlassen. Es ist ähnlich wie bei uns Menschen: Das, was die Kinder lernen und wie sie aufwachsen, prägt sie.
Warum ist der Wolf für unsere Natur in der Schweiz wichtig?
Müller-Hottinger: Ein Wolf riecht kranke, verletzte und alte Tiere, spürt diese auf und verzehrt sie. Dadurch können sich ansteckende Infektionskrankheiten unter den Beutetieren weniger schnell ausbreiten. Die Wölfe regulieren den Wildbestand auf natürliche Weise und achten, dass der Bestand der Beutetiere gesund bleibt. Wölfe sind ein wichtiger Bestandteil der Biodiversität. Dank ihnen vergrössert sich die Artenvielfalt und sie tragen aktiv dazu bei, dass Ökosysteme natürlich im Gleichgewicht gehalten werden. Forschungen ergaben in diversen Nationalpärken, dass es die Prädatoren (Raubtiere) für ein gesundes Ökosystem braucht, welches sehr komplex ist. Sicherlich ist noch nicht alles erklärbar, wie «die Natur» funktioniert, was alles miteinander verknüpft, verwoben und verbunden ist. Wenn uns das aber interessiert und wir gewillt sind, darüber mehr zu lernen und zu verstehen, beschreiten wir einen lösungsorientierten Weg, der nachhaltig wäre – für alles, was lebt.
Was denken Sie: Wird sich die Problematik in Zukunft entspannen?
Müller-Hottinger: Darüber entscheidet die Gesellschaft. Persönlich wünsche ich mir, dass genügend SchweizerInnen das «Referendum gegen das revidierte Jagdgesetz» unterschreiben und die anschliessende Volksabstimmung gewonnen wird. Und für die Zukunft wünsche ich mir, dass die Menschen lernen wollen, Wölfe sowie auch andere Tiere (Vögel, Luchs, Biber) nicht als Konkurrenz und Störenfried anzusehen, sondern als Verbündete für ein nachhaltiges Ökosystem. Wir sind ein Teil vom Ganzen und sollten nicht vergessen, dass auch wir Natur und Säugetiere sind.
Das Referendum «Nein zum missratenen Jagdgesetz» der Umweltverbände Pro Natura, WWF Schweiz, Birdlife Schweiz und Wolf Schweiz richtet sich gegen das revidierte Jagd- und Schutzgesetz. Die Unterschriftensammlung läuft bis zum 13. Dezember 2019.
Christine Müller-Hottinger.
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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