Neue Zukunft, neue Zukunftsprognosen. Aber mit Optimismus: Wirtschaftswachstum von 0,2 Prozent. Minus 0,2 Prozent.
Er sieht aus wie ein Neffe von Gandalf der Graue, der Zauberer aus dem «Herr der Ringe». Eine Künstlermähne über der hohen Stirne, modische Brille, dezentes Bärtchen. Martin Neff ist der «Chefökonom der Raiffeisen-Gruppe».
Wie Gandalf verfügt Neff über Zauberkräfte, über seherische Fähigkeiten. Er kann die Zukunft lesen. Aber nicht richtig schreiben, denn er teilt mit, dass die Schweizer Wirtschaft «von zwei Seiten in Mitleidenshaft gezogen» werde. Denn, oh Schreck, insbesondere in Italien sei «der Alltag zum Erliegen gekommen».
Da wünschen wir dem Alltag gute Besserung und Auferstehung. Und bewundern einmal mehr die Flexibilität von Neff. Denn noch vor Kurzem sah er für das Jahr 2020 ein Wirtschaftswachstum von 1,3 Prozent voraus. Aber die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Denn inzwischen rechnet Neff «mit einem leichten Schrumpfen der Wirtschaft um minus 0,2 Prozent». Immerhin spricht er hier nicht mehr von einem «Wirtschaftswachstum von minus 0,2 Prozent».
Da sich aber, dumm auch, die Zukunft ändern kann, hält sich Neff alle Möglichkeiten offen: «Die Risiken für einen noch stärkeren Wachstumseinbruch liegen derzeit höher als die Chancen für einen glimpflichen Ausgang.» Da kann man nur hoffen, dass die Risiken tiefergelegt werden als der Porsche des Raiffeisen-CEO Heinz Huber und dass die Zukunft den glimpflichen Ausgang sucht und findet.
Aber mal im Ernst, was man vom Chefökonom der Hypothekarbank Nummer eins in der Schweiz gerne wissen möchte: Wie geht’s eigentlich auf dem Immobilienmarkt weiter? Wenn wir da einige nicht aus dem Hut, sondern aus der Statistik geschöpfte Zahlen nehmen: Leitzins minus 0,75 Prozent. Weltrekord. Durchschnittliche Verschuldung der Haushalte im Vergleich zum Volkseinkommen 131 Prozent, Weltrekord. Einkommensanstieg in den letzten Jahren bei rund 2 Prozent, Immobilienpreise jährlich plus 8 Prozent.
Nun machen Banken immer beruhigende Geräusche, wenn das Wort Immobilienblase fällt. Schliesslich gebe es bei der Belehnung Reserven, werde eine Tragbarkeit von 5 Prozent Hypozins angenommen, kein Grund zur Panik.
Panik ist nie gut, aber: Ohne Kristallkugel ist folgendes Szenario denkbar. Die Virus-Hysterie führt tatsächlich zu einem Wirtschaftseinbruch. Der wiederum zu höheren Arbeitslosenzahlen. Die wiederum zu Problemen bei der Bedienung von Hypothekarschulden. Das wiederum zu Zwangsverkäufen. Die wiederum zu einem Absacken der Immobilienpreise. Das wiederum zur Nachschusspflicht, da Hypotheken nicht mehr durch den Verkaufswert der Immobilie gedeckt sind. Die wiederum zu noch mehr Zwangsverkäufen.
Und schwups, haben wir statt einer Immobilienblase eine geplatzte Immobilienblase. Und da würden dann die Kantonalbanken als grösste Kreditvergeber mit abgesägten Hosen dastehen, aber in den meisten Fällen, dank Staatsgarantie, von den Steuerzahlern ihrer Kantone gerettet werden. Und Raiffeisen?
Da würden zunächst einmal die Genossenschafter der noch verbleibenden rund 200 Banken innerhalb von Raiffeisen im Kleingedruckten nachschauen, wie es eigentlich mit ihrer Nachschusspflicht steht, im Fall der Fälle. Zudem ist Raiffeisen bekanntlich «too big to fail», also ein Systemrisiko, wenn es krachen sollte. Was wiederum bedeutet, dass im Fall der Fälle auch der Steuerzahler zur Kasse käme. Schön solidarisch in allen Kantonen der Schweiz.
Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, wenn sich der Chefökonom von Raiffeisen mal zu diesem Thema ein paar Gedanken machen würde, statt flexibel Prognosen über die Zukunft der Schweizer Wirtschaft insgesamt abzugeben. Und wie sich bei einem solchen Szenario Raiffeisen über Wasser halten würde, unter der Voraussetzung, dass Neff im Gegensatz zu Gandalf nicht über einen Zauberstab verfügt.
«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund einer halben Million Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.