Autor/in
Stölzle / Brányik
Ingrid Brányik (1963) ist Vorsitzende der Geschäftsführung der Logistics Advisory Experts GmbH, einem Spin-off der Universität St.Gallen, in Arbon (Schweiz). Prof. Dr. Wolfgang Stölzle (1962) ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Supply Chain Management, Universität St.Gallen (Schweiz)
Ein vergessener Anspruch an die COVID-19 Impfung
Impfungen: Die Frage nach der Verhältnismässigkeit
Die Diskussion um die COVID-19-Impfung läuft heiss. Medien vermelden nahezu aggressiv kumulative «Fallzahlen» beziehungsweise vermeintliche «Infektionszahlen». Schnell wird da die Forderung nach «Durchimpfen» und damit auch die Frage nach den Kapazitäten des gesamten Impfsystems gestellt.
Stölzle / Brányik
Publiziert am 16. November 2020
Dazu zählen die Produktion, Verteilung und Verabreichung von Impfstoffen. Die so genannte Impfstoff-Logistik verbindet die Produktion mit den zu impfenden Menschen. Für eine angemessene Dimensionierung der Impfstoff-Logistik braucht es Referenzpunkte. Als demonstratives Beispiel dienen aufbereitete Zahlen, Daten und Fakten aus Deutschland, um auf Basis der abzuschätzenden Mengen von Impfdosen Eckpunkte des Impfsystems und der Impfstoff-Logistik zu identifizieren.
Seriöse Datenerhebung?
Eine verlässliche Datenerhebung zur Einschätzung der Gefährlichkeit eines Virus ist zweifelsohne unabdingbar. Dabei gilt es, auf eine Vielzahl von Parametern zu schauen, um sie in einen geeigneten Zusammenhang Kontext zu bringen. Solche Daten dienen nicht nur dem Schutz der Bevölkerung sowie der Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen. Vielmehr liefern sie politischen Entscheidungsträgern wichtige Hinweise für den Aufbau eines Impfsystems und dessen Dimensionierung. Damit gehört eine seriöse Datenerhebung mit einer geeigneten Auswertung in das Pflichtenheft der aktuellen Krisenpolitik.
Positiv Getestete gleich Infizierte?
Derzeit konzentriert sich die politische und mediale Kommunikation schwerpunktmässig auf den Parameter «Anzahl positiv Getesteter pro Tag oder Woche». Wenig bis gar nichts erfährt der interessierte Bürger aus den Medien, wie es um die tatsächliche Genauigkeit der PCR-Tests bestellt ist. Allein auf Basis eines Abstrichs werden aus positiv Getesteten «Infizierte» (mit oder ohne Symptome) sowie aus Verstorbenen COVID-19-Tote gemacht (mit oder ohne teils schwerwiegenden Vorerkrankungen). Nicht jeder Bürger ist Virologe und kennt sich im Dschungel der medizinischen Fachbegriffe aus. Das muss er auch nicht, denn es ist Aufgabe der Politik, die Bevölkerung hierüber angemessen aufzuklären.
Bislang wird es von der Politik versäumt, Schwachstellen der PCR-Tests offenzulegen, die jedoch für eine objektive Deutung der Testergebnisse eminent wichtig wären. Mit der aktuell gezielt nach oben getriebenen Testanzahl pro Woche wird die Bedeutung von Corona bewusst überhöht, es ist sogar bereits von einer «Test-Pandemie» die Rede, und dies, ohne die Ergebnisse zu bereinigen und ins Verhältnis zu vergleichbaren Zeiträumen oder Parametern zu setzen. Wünschenswert wäre endlich die Rückkehr zum gesunden Menschenverstand, der früher lautete: «Eine Krankheit ist dann bedrohlich, wenn viele zu ihrem Opfer werden, indem sie beispielsweise bettlägerig werden oder sterben. Bei Corona ist alles anders! Hier gelten die Fallzahlen als Mass aller Dinge» (Quelle: «Die Ostschweiz», 26.10.2020).
Zusammenbruch des Gesundheitssystems?
Ein weiterer Parameter beim Einschätzen der Gefährlichkeit eines Virus ist die Auslastung der Intensivbetten in Krankenhäusern. Diese Zahlen dürfen jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Ein Vergleich mit denjenigen Vorjahres-Zeiträumen, in denen Intensivstationen saisonbedingt wiederkehrend stark beansprucht wurden und werden, gibt hierfür wichtige Hinweise. Im Jahr 2017 beispielsweise waren in Deutschland die Intensivbetten im Jahresmittel zu 79 Prozent ausgelastet. Die durchschnittliche Verweildauer eines Patienten betrug 3,8 Tage. Es standen damit im Schnitt 5.886 Betten leer. Selbst bei einer längeren Verweildauer von COVID-19-Patienten liest sich die folgende Graphik weniger Panik-behaftet:

Gesamtzahl gemeldeter Intensivbetten in Deutschland (Betreibbare Betten und Notfallreserve). (Quelle: DIVI-Intensivregister)
Deutschland verfügt offenbar über ein exzellent ausgebautes Gesundheitswesen mit überdurchschnittlich vielen Intensivbetten. Selbst während des bisherigen Höhepunkts der sogenannten Corona-Krise im Frühjahr 2020 waren keinerlei Engpässe zu verzeichnen. Dies hat sich auch mit Beginn der «Grippe-Saison» m Herbst 2020 nicht geändert.
Zu wenig ins Licht gerückt wird zudem die Tatsache, dass im Frühjahr 2020 Intensivbetten auf Kosten aufgeschobener, nicht Corona-bedingter Behandlungen und Operationen freigehalten wurden: 50.000 blockierte Krebsoperationen (Quelle: Deutsche Krebshilfe) werden weder politisch noch medial thematisiert. Die fatalen Folgen dieses Effekts offenbaren sich indessen erst mit einigem Zeitverzug.
An/mit Corona verstorbene Menschen versus Kollateralschäden?
Täglich sterben in Deutschland durchschnittlich 2.500-2.600 Menschen, das sind knapp 1 Mio. Menschen pro Jahr. Seit Beginn der Corona-Krise bis heute (Stand: 03.11.2020) sind 10.661 sogenannte Corona-Tote zu beklagen, das sind 1,06% der insgesamt Verstorbenen. Dennoch geben die wöchentlichen Sterbefallzahlen im Vergleich zu den Vorjahren keinen Anhaltspunkt für Alarmismus (siehe Bild 2). Die Kollateralschäden der politischen Massnahmen wie Suizide, zerstörte Existenzen, Angstpsychosen, Existenzängste und viele, viele mehr werden bis dato offenbar ungenügend oder gar nicht in politische Entscheidungen einbezogen und übersteigen jedoch höchstwahrscheinlich die Corona-Opfer bei weitem: Michael Tsokos, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité: «Wir haben viel weniger COVID-19-Tote als Kollateralschäden» (Quelle: NDR 02.10.2020).
Kaum Erwähnung findet in Politik und Medien zudem die Tatsache, dass in Deutschland ca. 20.000 Menschen an Krankenhaus-Problemkeimen sterben, welche in direkter Korrelation mit Geldmangel für Reinigungspersonal stehen (Quelle: Robert-Koch-Institut am 15.11.2019 in tagesschau.de). Werden hier Opfer mit zweierlei Mass gemessen? Was ebenfalls kaum Gehör findet: Experten des Welternährungsprogramms (WFP) warnen vor Hungersnöten biblischen Ausmasses innerhalb weniger Monate.

Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland. (Quellen: Sterbefallzahlen insgesamt: Statistisches Bundesamt, COVID-19-Todesfälle: Robert Koch-Institut © Statistisches Bundesamt (Destatis), 2020)
Verhältnismässigkeit der politischen Massnahmen?
Für eine Orientierung zur Verhältnismässigkeit der politischen Corona-Massnahmen und des Impfstoff-Systems bietet sich auch der Blick auf die Grippewelle aus dem Jahr 2017/2018 an. Die Einschätzung der Gefahren von COVID-19 im Vergleich zur Influenza sind bereits im Frühjahr und Sommer 2020 fehlgeleitet gewesen, allerdings ohne Lerneffekt für den Herbst 2020. Im Gegenteil: angesichts der so genannten zweiten Corona-Welle wird propagiert, dass die komplette Welt-Bevölkerung geimpft werde müsse (Bill Gates im FAZ-Interview vom 30.09.20). Besagte Grippesaison hatte aussergewöhnlich viele Opfer zu beklagen, dennoch haben Arztpraxen, Labore und Krankenhäuser ihre Arbeit weitgehend unbeachtet von der medialen Öffentlichkeit geleistet. Dies steht im krassen Kontrast zur totalen Blockade des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, wie sie im Frühjahr 2020 durch den politisch veranlassten Lockdown verursacht wurde.
Politische Massnahmen alternativlos?
Wer dennoch zur Auffassung kommen sollte, COVID-19 sei mit grösseren Risiken als eine schwere Grippewelle behaftet, sollte zuerst alternative Ansätze analysieren, bevor ein Lockdown verhängt wird. Schweden zeigt seit Februar 2020 eine solche Option auf. Das Land setzt auf Aufklärung und freiwillige Mitarbeit der Bevölkerung. Es gibt kaum spürbare Einschränkungen im Alltag und keine politisch veranlasste Panikmache. Des Weiteren hat Corona deutlich weniger Präsenz in den Medien. Auswertungen der schwedischen Sterbestatistiken über den langjährigen Durchschnitt zeigen, dass der schwedische Sonderweg durchaus als erfolgreich zu bewerten ist.

Anzahl Infektionen und Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus (COVID-19) in Schweden seit Februar 2020. ?(Quelle: Statista 2020, Stand 30.10.2020)
Politische Kommunikation in Deutschland
In Deutschland wird der Bevölkerung prophezeit, an Weihnachten 2020 erwarte man bei ungebremster Ausbreitung 400.000 Neuinfizierte pro Tag. (Lars Schaade, Vizepräsident Robert-Koch-Institut, Pressekonferenz am 03.11.2020). Angesichts der immensen Schäden allein durch Panik-Erzeugung sähe eine angemessene Kommunikation gewiss anders aus. Verwunderlich ist auch, dass die medial getätigten Aussagen deutscher Politiker in keiner Weise mit den erhobenen Daten der zuständigen Behörden übereinstimmen. Dies zeigt die Verschlusssache für den Dienstgebrauch: «Lagebild Gemeinsamer Krisenstab BMI-BMG COVID-19» (Stand: 28.10.2020) gemäss folgender Zusammenfassung: Die positiven PCR-Testergebnisse würden als «bestätigte COVID-19-Fälle» deklariert, obwohl das RKI selbst bekunde, dass positive Testergebnisse nichts über Infektiosität oder das Vorhandensein von klinischen Symptomen aussagten. Der Bundesregierung sei auch bekannt, dass die tägliche Zahl der COVID-19-Toten bundesweit lediglich im zweistelligen Bereich liege, dennoch würden Absolutzahlen der positiven PCR-Tests im Hinblick auf eine zu befürchtende Überauslastung der Intensivbetten zu Grunde gelegt.
Im Ergebnis besteht demnach die grosse Gefahr, dass politische Massnahmen auf falschen Zahlen aufsetzen und damit keine Verhältnismässigkeit mehr mit den damit verbundenen, massiven Einschränkungen der Grundrechte zu erkennen ist.
COVID-19-Impfung als einziger Lösungsweg?
Auf wie viele Menschen ist die Dimension einer Impfkampagne denn nun auszurichten? Folgende Messgrössen sollten dabei berücksichtigt werden: Die Anzahl der schwer Erkrankten, die Tödlichkeit der Krankheit, die Kapazitäten und die Auslastung von Intensivstationen. Man kann davon ausgehen, dass auch die Grippe-Impfung auf diese Eckpunkte ausgerichtet wurde, ebenso deren Impfstoff-Logistik. Ein Vergleich mit den COVID-19-Zahlen aus dem Jahr 2020 zeigt zudem, dass die Influenza im direkten Vergleich offenbar deutlich gravierender war.
COVID-19 Impf-Kampagne mit Bedacht?
Das höchst umstrittene Verfahren der derzeitigen Impfstoff-Entwicklung gegen das SARS-CoV-2-Virus muss für die Dimensionierung einer Impf-Kampagne ebenfalls in Betracht gezogen werden. Ein Sars-CoV-2-Impfstoff ist bislang weder nach allen Regeln der Kunst entwickelt noch erprobt worden. Zudem sind die Corona-Viren seit Ausbruch der sogenannten Pandemie bereits mutiert. Wie hoch wäre die „Trefferquote“ der Impfung und wäre sie gesundheitlich vertretbar? Wäre hier ggf. eine vorsichtige und über einen längeren Zeitraum ausgelegte, stufenweise hochzufahrende Impf-Kampagne nicht besser dem Anspruch der Verhältnismässigkeit von Chancen und Risiken entsprechen? Denn gewöhnlich dauern die seriöse Entwicklung und Validierung eines neuartigen Impfstoffs 8 und mehr Jahre. Mit der wie bei der Corona-Impfstoff-Entwicklung vorgenommenen, starken Verkürzung und Überlappung der Entwicklungsphasen wächst die Gefahr der Inkaufnahme gesundheitlicher Schäden.
Dessen sind sich auch die Impfstoff-Entwickler bewusst. Vorsorglich wird ein Haftungsausschluss für Sars-CoV-2-Impfstoffe für sich beansprucht: Die Kosten für Schäden, welche die COVID-19-Impfung verursachen könnte, sollen offenbar von den europäischen Steuerzahlern und nicht von der Pharmaindustrie getragen werden. Ein Sprecher der EU-Kommission sagte der Berliner Zeitung: «Die Verträge mit den Unternehmen sehen Entschädigungsklauseln vor für den Fall, dass ein Hersteller zu Schadenersatzzahlungen verurteilt würde.» Der Grund für diese Massnahme sei, «dass im Wettlauf mit der Zeit die Impfstoffhersteller einen Impfstoff viel schneller produzieren müssen als unter normalen Umständen“. Der Impfstoff müsse in einem Zeitraum von „12 bis 18 Monaten statt von einem Jahrzehnt oder mehr» entwickelt werden. Die EU sieht daher die Notwendigkeit, den Herstellern das Kostenrisiko bei Ansprüchen abzunehmen, die wegen der kurzen Entwicklungszeit möglicherweise vor Gericht durch Patienten von den Pharmaunternehmen erstritten werden“ (Quelle: Berliner Zeitung, 26.08.2020).
Die Zukunft: Eckpunkte für eine Impfstoff-Logistik
Entwarnung und Beruhigung tun Not! Bis zur Verfügbarkeit eines ausgereiften, sicheren und zugelassenen Impfstoffs kann eine angemessene Impfstoff-Logistik schrittweise aufgebaut werden. Eile zu Lasten von Sicherheit ist angesichts der Verhältnismässigkeit der medizinischen Zahlen nicht gegeben. Wenn man die Logistikkonzepte für Sars-CoV-2-Impfstoffe mit Bedacht auf die Dimensionierung einer Grippe-Impfung auslegt, dann reichen die derzeit zur Verfügung stehenden Logistikkapazitäten prinzipiell aus. Denn bei Impfstoffen gab es bislang noch keinen von der Logistik verursachten Engpass, auch nicht bei so genannten Epidemien in der Vergangenheit, wie etwa der Schweinegrippe. Nicht nur das Impfen gegen COVID-19, sondern auch die Forderungen nach einer überzogenen Impfstoff-Logistik sind deshalb mit grosser Vorsicht zu geniessen.
Autor/in
Stölzle / Brányik
Ingrid Brányik (1963) ist Vorsitzende der Geschäftsführung der Logistics Advisory Experts GmbH, einem Spin-off der Universität St.Gallen, in Arbon (Schweiz). Prof. Dr. Wolfgang Stölzle (1962) ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Supply Chain Management, Universität St.Gallen (Schweiz)