Als im August an den Bau der Berliner Mauer vor sechzig Jahren erinnert wurde, fehlte auch nicht die Erinnerung an die legendäre Lüge des SED-Chefs Walter Ulbricht, der wenige Wochen zuvor gesagt hatte: «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.» – Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Andreas Brenner.
Andreas Brenner ist Professor für Philosophie an der Universität Basel und Autor des Buches «CoronaEthik».
Ein wenig kann man sich der historisch-rhetorischen Parallele nicht entziehen, wenn man sich der Aussagen der führenden Politiker in den demokratischen Staaten erinnert, die noch vor kurzem beteuerten, dass es einen Impfzwang nicht geben werde und mit leichter Hand genau das zur Zeit vorbereiten.
Das fängt ja bereits beim Begriff an, der politisch verbrämt nicht von Zwang, sondern von Pflicht redet und hört noch lange nicht dort auf, wo das öffentliche Leben so umgebaut wird, dass bald Ungeimpfte davon ausgeschlossen sein werden. Wer wissen will, wie das aussieht, und wie es sich in einer solchen Gesellschaft lebt bzw. eben nicht mehr lebt, der reise einmal nach Paris. Für viele aus der Schweiz ist dieser Trip unüberwindlich geworden, steht dem doch in dem grenzenlosen Europa ein neuer Wall im Wege, der sich schön französisch Pass Sanitaire nennt. Natürlich, soweit reicht die innereuropäische Kooperation noch, wird auch das Schweizer Pendant als gleichwertig anerkannt, aber ohne ein solches Dokument bleibt einem vieles in Paris versperrt, so der Louvre ebenso wie die Restaurants und Bistros oder aber auch Kaufhäuser wie die Galerie Lafayette.
Hierzulande hat der Bundesrat diese Hürde, nachdem sie erst einmal allen gezeigt worden ist, einstweilen wieder in die Massnahmen-Kiste eingepackt, um sie aber jederzeit wieder hervorzuholen. Wie zu Beginn der Pandemie arbeitet die Politik dabei zunächst an den Begriffen: Damit das Bild der liberalen Welt weiter aufrecht erhalten werden kann, meidet die Politik neuerdings nicht nur den Begriff des Impfzwangs, sondern auch den der Impfpflicht. Diesen Begriff hat der Staat der Privatwirtschaft abgetreten, jüngst verkündete der CEO der Swiss eine Impfpflicht für seine Mitarbeiter. Der Staat redet derweil lieber von einer Pflicht, sich impfen zu lassen und schwingt dabei die moralische Keule. Wer der vermeintlichen Pflicht nicht nachkomme, der handle unverantwortlich, gefährde er doch andere Menschen.
Allem Anschein nach verfängt dieses Argument nicht bei den vielen, die sich nicht haben impfen lassen. Da man davon ausgehen kann, dass die meisten Mitmenschen verantwortungsvolle Mitglieder der Gesellschaft sind, also eine mutwillige Gefährdung Anderer zu vermeiden suchen und deshalb beispielsweise volles Verständnis für die Verurteilung von Rasern und Veranstaltern illegaler Autorennen haben, sind sie also wohl überzeugt durch Abstandsregeln oder Maskentragen eine Übertragung des Virus vermeiden zu können. Dass diese Massnahmen ausreichen, ist ja auch wissenschaftlich hinlänglich bewiesen.
Dem Staat, der von der Pflicht zum Impfen redet und angeblich von einem Impfzwang nichts wissen will, macht nun genau dies: Die Zertifikatspflicht, die einmal eingeführt ist, übt einen Zwang aus, dem sich viele Menschen beugen werden, wenn sie die Teilhabe an der Gesellschaft oder ihren Beruf nicht aufgeben wollen. Bereits jetzt, wo dieses Instrument wieder in der Asservatenkammer verschwunden ist, zeigt es bereits Wirkung. Im Schauspielhaus Zürich kommt man seit dieser Woche bereits nicht mehr ohne das Zertifikat hinein; so sieht man, wie Politik funktioniert: Der Staat muss nur laut denken und wünschen schon finden sich viele Gedanken- und Wunscherfüller.
Kommen wir zurück zur Berliner Mauer. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Mindestens zweierlei fällt auf: So wie der «anti-imperialistische Schutzwall», wie es in der Rhetorik des DDR-Sozialismus hiess, eine Wand und damit eine Trennung markierte, so wird auch das Zertifikat Menschen trennen. Eine andere Gemeinsamkeit dieser Politik zeigt sich in ihrem beiderseitigen sozialistischen Grundmuster. Ausgerechnet liberale Staaten bauen an einem Sozialismus, den man, solange wir dafür noch keinen besseren Begriff haben, Bio-Sozialismus nennen kann: In Zeiten der Pandemie, so das Verständnis dieses neuen Systems, gibt es nur noch Gemeineigentum. Das hat scheinbar harmlos begonnen, als, beispielsweise in Deutschland, der Staat Einsitz in die Verwaltung grosser Unternehmen genommen hat, und endet nun damit, dass der Staat den Anspruch auf die Körper «seiner» Bürger erhebt. Mit eben diesem Verständnis kann dann der unschöne Begriff des Impfzwangs aber auch die problematische Formel einer Pflicht zum Impfen überwunden werden. Im Sozialismus, dessen sollte man sich doch noch erinnern können, herrschte das grosse Wir. Der Bio-Sozialismus kennt das auch und ganz ohne Druck und Zwang heisst es hier: «Wir impfen uns.»
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