Der Lack ist angekratzt. Ereignisse wie die um die Innerrhoder Staatsanwaltschaft sind Wasser auf die Mühlen derer, welche die Erfolgsgeschichte des Kleinkantons immer argwöhnisch beobachtet haben. Vielleicht ist das aber verfrüht.
Es gab immer mal wieder Phasen, in denen Aussenstehende den Kanton Appenzell Innerrhoden und seine Erfolgsgeschichte der letzten Jahre schlecht geredet haben. Anlass dazu gab meist die Tatsache, dass hier die Dinge anders gemacht werden als anderswo. Wo kann beispielsweise ein Regierungsmitglied fast 30 Jahre lang schalten und walten, ohne je in Frage gestellt zu werden? Wie kann ein Kanton bis in die jüngere Zeit die elementarsten Grundregeln der Demokratie, die sonst überall gelten, einfach ausser Acht lassen, von der Gewaltenteilung bis zum Frauenstimmrecht?
Aber Innerrhoden hat sich stets neu erfunden, wenn übergeordnete Zwänge Veränderungen auslösten. Man hat nachvollzogen, was unumgänglich war - und weitergemacht. Auch das hat den Rest der Schweiz so verblüfft. Jetzt hat man die Leute am Alpstein doch eigentlich in die Knie gezwungen, und was tun sie? Sich mit den neuen Verhältnissen arrangieren und den Rest der Eigenheiten einfach bewahren.
2018 war in dieser Hinsicht ein besonderes Jahr. Denn erstmals kam - geballt - die Kritik nicht nur von aussen, sondern auch von innen. Das Gebaren der Standeskommission beziehungsweise des Landammanns beim geplanten Spitalneubau während der Landsgemeinde: Es endete mit einem Sieg der offiziellen Haltung, hinterliess aber Spuren. Und nun der Fall einer Staatsanwaltschaft, die nicht einfach persönlich überfordert war, sondern sich in unklaren Strukturen bewegte. Wer ist für was zuständig? Was theoretisch auf Papier festgehalten ist, das ist in der Praxis in Innerrhoden immer noch von einzelnen Personen abhängig.
Da liegt eine Ironie: Es gibt kaum ein Volk, das so sehr auf Unabhängigkeit pocht wie die Innerrhoder. Und zugleich ist kaum jemand so sehr der eigenen Obrigkeit hörig wie die Innerrhoder. Vielleicht, weil sie überzeugt sind, dass nur eine starke Regierung diese Unabhängigkeit zu schützen vermag. Wer sie kritisiert, schwächt sie. Und wer soll sich dann gegen «die da oben» - ausserhalb des Kantons - wehren?
Wer jemals beispielsweise juristisch mit den Kantonsinstanzen zu tun hatte, weiss: Das Selbstvertrauen ist gross. Es gibt Dinge, die gehen, und andere, die nicht gehen. Und entscheidend sind weniger die Paragraphen als vielmehr das, was «man» in Ordnung findet und was nicht. Schon so mancher ist aufgelaufen, der die Gesetze auf seiner Seite glaubte. Die Uhren ticken anders in Innerrhoden.
Aber zur Enttäuschung aller, die glauben, die jüngsten Vorfälle seien dazu angetan, Appenzell Innerrhoden und seine Art, die Dinge anders zu machen, in die Schranken zu weisen: So einfach ist das nicht - und so schlau ist das auch nicht. Denn bei aller Fehlbarkeit: Nach wie vor macht der flächenmässig kleinste Kanton der Schweiz vieles richtig - und besser als andere. Das Wirtschaftswunder, die Entwicklung vom Schweizer Armenhaus zu einem gemessen an seinen Möglichkeiten gesuchten Standort, kommt nicht von ungefähr.
Dass hier alles näher beieinander liegt, dass man sich gegenseitig kennt, das ist im Einzelfall oft eine Krux. Man kann sich nicht einfach auf das verlassen, was andernorts völlig logisch ist. Man muss zugleich auch die richtigen Leute kennen und sie auf ihrer Seite wissen. Gleichzeitig eröffnet es ungeahnte Möglichkeiten, wenn alle Zahnräder ineinander greifen. Hier ist Neues viel schneller möglich als beispielsweise in einem geografisch und kulturell verzettelten Kanton wie St.Gallen.
Die Frage ist nun, ob der Spagat gelingt. Die Qualitäten des kleinen Raumes bewahren bei gleichzeitiger sanfter Öffnung gegenüber dem, was anderswo als selbstverständlich gilt. Innerrhoden wandelt sich. Das sieht man, wenn man durch den Hauptort Appenzell fährt. Es wird gebaut wie in einer Metropole. Das bringt Neuzuzüger, Menschen, die davon ausgehen, dass gewisse Spielregeln überall gelten.
Eine vielleicht gewagte Aussage: Die Vorlage für einen Spitalneubau wäre in fünf Jahren abgelehnt worden. Weil der Anteil der Leute an der Landsgemeinde, die nach sachlichen Kriterien entscheiden, bis dann gewachsen ist. In diesem Jahr war der Reflex «Das wird schon gut sein» noch grösser. Lange hält dieser Zustand nicht mehr an.
Auf diesen Moment muss man gewappnet sein. Auch und gerade bei den politischen Instanzen. Es ist sinnvoll, nicht jedem Trend nachzurennen und zu versuchen, das zu bewahren, was einen einzigartig macht. Allerdings kann man das nicht gegen den Willen einer Mehrheit zu tun. Das Wachstum an allen Fronten hat seinen Preis. Auf diesen muss man reagieren. Und zwar unter anderem mit einer gewissen Demut.
Innerrhoden nennt seine Regierung «Standeskommission». Das ist nicht einfach ein Wort, das ist eine Aussage. Es ist die explizite Unterwerfung gegenüber dem Volk. Dieses hat das Sagen, und eine einfache Kommission setzt den Volkswillen um. Die Frage ist nun, ob diese Idee der Gründerväter auch Einzug in die Realität hält. Im Moment läuft die Demut, ob gewollt oder ungewollt, nämlich den umgekehrten Weg - vom Volk gegen oben. Die «Idee Innerrhoden» wird aber von den Menschen geprägt, die hier wohnen. Nicht von einem politischen Gremium.
Die gute Nachricht: Auch diese Transformation wird Appenzell Innerrhoden schaffen. Und die Nachbarn werden auch in einigen Jahren neidvoll Richtung Alpstein schauen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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