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Zeyer zur Zeit

Kranke Todeszahlen

Corona-Tote verbieten jede Relativierung. Wer etwas von Verhältnismässigkeit sagt, ist ein Zyniker, der Geld über Gesundheit setzt. Zunächst einmal müssten die Zahlen aber stimmen.

«Die Ostschweiz» Archiv am 31. Dezember 2020

Ansteckung, R-Wert, Mutation, Himmels willen. Lockdown jetzt noch strenger, noch länger. Szenarien, wenn die neue Corona-Variante noch ansteckender ist. Vielleicht sind wir nächstes Jahr alle tot.

Das ist zwar sehr zweifelhaft; eher noch sind wir alle pleite, wenn das verantwortungslose Würgen der Wirtschaft weitergeht. Aber es gibt in der Debatte im wahrsten Sinne des Wortes ein Totschlagargument: Die Anzahl Corona-Tote.

Im grossen Deutschland zum ersten Mal mehr als 10'000 an einem Tag. In der Schweiz seien dieses Jahr, also im «Corona-Jahr mehr als 6000 Menschen mehr als erwartet gestorben», titelt «20 Minuten». Das Ergebnis einer Recherche von immerhin drei Journalisten. Basierend auf Daten des BAG, behaupten die.

Ein «Infektologe» darf nicht fehlen, der die Stirne runzelt und die zögerlichen Behörden massregelt, die damit «diese Übersterblichkeit in Kauf genommen hätten». Damit holt sich der «Leiter der Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene am Kinderspital Zürich» seine fünf Minuten Ruhm ab, bevor er wieder verschwindet.

Immerhin, das sei der Gerechtigkeit halber erwähnt, weist am Schluss des Artikels ein längerer Kasten auf diverse Probleme dieser Behauptung hin. Verblüffenderweise sterben zum Beispiel mehr Menschen als in den Vorjahren, wenn es mehr Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz gibt. Und laut Bundesamt für Statistik gibt es noch ein weiteres Phänomen: «Weil die Wahrscheinlichkeit zu sterben, mit zunehmendem Alter steigt, nimmt die Anzahl Todesfälle pro Jahr weiter zu.» Muss man nicht verstehen.

Verstehen kann man aber zunächst diese zwei Angaben, wie alle folgenden vom Bundesamt für Gesundheit (BAG). Über dessen Zuverlässigkeit und Akkuratheit liesse sich einiges sagen, aber nehmen wir halt die offiziellen Zahlen. Der Altersmedian der Verstorbenen liegt bei 85 Jahren. 97 Prozent von ihnen litten an einer oder mehreren Vorerkrankungen.

Das bedeutet zunächst: Die Hälfte aller in der Schweiz an oder mit Corona Verstorbenen wurde älter als die durchschnittliche Lebenserwartung, und eigentlich alle hatten mindestens eine Vorerkrankung. Man kann aus diesen Angaben des BAG allerdings auch folgende Schlussfolgerung ziehen: «Erstmals ist über die Festtage auch eine Person in der Altersklasse 20 – 29 Jahre gestorben.» Allerdings nur, wenn man ein bekennender Amok wie der leitende Tagi-Redaktor Marcel Brupbacher ist. Der hat ja auch die absurde Behauptung aufgestellt, wir seien angesichts von bisher rund 7000 Corona-Toten «nicht weit weg vom Kurs auf 20’000. Von wegen Panikmacher.» Das ist eine nachträgliche Rechtfertigung des Überbietwettbewerbs Anfang Frühling dieses Jahres, als Epidemiologen von bis zu 100'000 Toten in der Schweiz faselten.

Aber vom Wuttwitterer den weiten Weg zurück zur Realität. Und die lässt sich – trotz allem Geschrei und wilden Behauptungen – am besten mit offiziellen Zahlen beschreiben. Nun ist immerhin die Todesfallstatistik ziemlich gut aufgearbeitet und dargestellt. Wer von jetzt an nicht aufgrund wilder Behauptungen, falscher Berechnungen und haltloser Prognosen argumentieren will, dem seien diese drei Tabellen empfohlen (Download Excel-Tabelle mit drei Reitern). Sie verwenden alle die offiziellen Angaben des BAG, beziehungsweise des Statistischen Bundesamts.

Sind nun im Corona-Jahr über 6000 Menschen mehr als erwartet gestorben, wie «20 Minuten» titelt? Nein, es sind 5857. Nun, ist das nicht spitzfindig? Nein, die Zahl 6000 ist einfach falsch. Genauer: Im Text schreibt «20 Minuten», es seien «6180 Menschen mehr als prognostiziert» gestorben.

Nochmal, es waren 5857. Aber viel wichtiger: Es gibt die sogenannte erwartete Zahl, und es gibt einen Tunnel der statistischen Unter- und Obergrenze der Todesfälle, die sich aus einem mehrjährigen Mittel ergeben. In diesem Tunnel wurde 2020 tatsächlich ein paar Mal die Obergrenze durchbrochen; man spricht dann von einer Übersterblichkeit.

Aber: Aufs ganze Jahr gesehen, haben wir diese Obergrenze überhaupt noch nicht erreicht. Das kann man auch an der Tabelle nachprüfen, die die Zahlen von 2010 bis 2020 abbildet. Jeweils nur bis KW 51, weil aktuell noch die letzte KW von 2020 logischerweise fehlt.

Konkret für dieses Jahr: Natürlich gab es im Frühling und nun in der zweiten Welle Wochen, in denen die Sterblichkeit oberhalb der erwarteten Zahl lag. Bei den U-65 allerdings genau ein Mal, in der KW 50. Da lag die Obergrenze des statistischen Mittels bei 193 Toten. Es starben aber 195,6. Bei den Ü-65 gab es tatsächlich im Frühling und aktuell insgesamt 14 Wochen mit Übersterblichkeit.

Das macht aber bis KW 51 eine Sterblichkeit von 71’865. Und die liegt UNTERHALB der statistischen Obergrenze von 72'147. Entweder, die Zahlen des BAG lügen, oder alle hyperventilierenden Alarmisten können nicht richtig zählen.

Wie kommen sie denn aber fast überall auf eine «deutliche Übersterblichkeit»? Einfach: Indem man sich auf die Zahlen seit Anfang der zweiten Welle kapriziert und ein grosses Buhuhu veranstaltet. Dabei aber unter den Tisch fallen lässt, sonst wär’s ja nicht so furchtbar, dass im Jahresschnitt wir noch im Tunnel liegen.

Gerne wird auch damit gewinkt, dass nun aber wochenlang eine Übersterblichkeit existiere, viel schlimmer als bei der Grippewelle 2015. Abgesehen davon, dass sich beide Zahlen nur sehr bedingt vergleichen lassen: 2020 gab es bislang 15 Wochen mit Übersterblichkeit. 2015 waren es 18 Wochen.

Klar, das Lesen und Interpretieren (angefangen beim Zusammenstellen) von Zahlen, deren Aussage und deren richtige Einordnung, das liegt meistens oberhalb der Gehaltsklasse des modernen Journalisten.

Dann gibt es Voreingenommene, Besserwisser und selbst ernannte Corona-Spezialisten, die den Namen bis vor Kurzem nur im Zusammenhang mit Bier kannten. Es gibt auch den Herdentrieb; wenn das angesehene «Echo der Zeit» von SRF mit tief gerunzelter Stirn und wissenschaftlicher Autorität behauptet, dass es 2020 eine signifikante Übersterblichkeit gebe, dann ist man doch auf der sicheren Seite, wenn man das nachplappert.

Man ist dann tatsächlich nicht das schwarze Schaf. Trottet aber blökend in der Schafherde mit.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
«Die Ostschweiz» Archiv

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