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Degen und Säbel als Stimmausweis

Landsgemeindetag in Appenzell: Fast 4'500 Frauen und Männer im Ring – nach 152 Jahren bekommt Appenzell Innerrhoden eine neue Kantonsverfassung

Die Demokratie lebt. In den beiden Kantonen Appenzell-Innerrhoden und Glarus wird diese Form der direkten Demokratie noch praktiziert. Über 4'000 stimmbeteiligte Frauen und Männer waren am letzten Sonntag im Ring in Appenzell.

Urs Oskar Keller am 29. April 2024

Die Stimmbevölkerung von Appenzell-Innerrhoden hat sich an der Landsgemeinde vom 28. April 2024 für eine neue Kantonsverfassung ausgesprochen. Alle zwölf Geschäfte wurden vom Stimmvolk abgesegnet. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, Ehrengast an der Landsgemeinde: «Ein gutes Beispiel lebendiger Demokratie.»

• Einmal im Jahr, am letzten Sonntag im April, kommen alle stimmberechtigten Frauen und Männer auf dem Landsgemeindeplatz zusammen, um die Politik des nächsten Jahres zu bestimmen. In Appenzell Innerrhoden sind die Frauen seit 1990 am politischen Leben beteiligt. 1991 nahmen die Frauen erstmals an der Landsgemeinde teil. Über 4'000 stimmbeteiligte Frauen und Männer waren im Ring. Alle zwölf Traktanden wurden angenommen.

• Rund zwei Stunde dauerte die Appenzeller Landsgemeinde, die traditionell am letzten Sonntag im April stattfindet. Der wichtigste politische Tag des Jahres, an dem Wahlen anstanden und an dem unter freiem Himmel per Handmehr über zwölf Geschäfte abgestimmt wurde, dauerte dieses Jahr etwas länger.

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«Zum Glück steht es auch mit dem Wetter wieder besser und ich hoffe niemand muss frieren», meint eine Appenzellerin auf unserem Weg von Weissbad nach Appenzell. Die Pfarrkirche St. Mauritius war bereits vor neun Uhr voll. Der Gottesdienst wurde auch von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, Ehrengast der Landsgemeinde besucht. Polizisten und Sicherheitsbeamte waren im Einsatz. In den Gassen von Appenzell war es noch ruhig. Später lauschten viele den Klängen der Musikgesellschaft Harmonie, die seit 1868 den Festzug begleitet, die als offiziellen Landsgemeindemarsch «Marcia solenne» des Komponisten Puzzi spielt, bis sich die Regierung (Standeskommission) für den Aufmarsch durch die Hauptgasse einreiht. Dieser spezielle und langsame Paradeschritt ist für Gäste und neue Amtsträger kein einfacher «Spaziergang». Einige «watschelten» über die Hauptgasse zum Landsgemeindeplatz. Der Landweibel führte den Marsch an, gefolgt von Regierung und Gericht. «Der Start um zwölf Uhr mit dem Beginn des Landsgemeindemarsches ist für mich immer ein ganz besonderes Erlebnis. Danach schleichen wir uns hinten herum über den Kirchenplatz vor der Ratskanzlei hindurch, um beim Seiteneingang bei der Ehrentribüne den Ring zu betreten», erzählt Bruno Inauen, Leiter Landwirtschaftsamt Kanton St. Gallen (bis 2018 Chef des Landwirtschaftsamtes des Kantons Appenzell Innerrhoden).

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Start der Landsgemeinde

In seiner Eröffnungsrede ging der regierende Landammann Roland Inauen vorwiegend auf das Haupttraktandum, die Totalrevison Kantonsverfassung von 1872 ein. «An den Grundfesten dieses Kantons, an der Landsgemeindedemokratie und am Rechtsstaat wird nicht gerüttelt. Dieses unausgesprochene Commitment war und ist auch Richtschnur für die Totalrevision der Kantonsverfassung, über die wir heute abstimmen. Tragen wir Sorge zu diesem Selbstbekenntnis, das gleichzeitig Selbstverpflichtung ist. Tragen wir Sorge zu unserer Kultur des Kompromisses», appellierte Inauen an die Anwesenden. «Wer kompromissbereit ist, ist um Entgegenkommen, Ausgleich und Versöhnung bemüht; er oder sie bringt Verständnis für andere Meinungen auf. Demokratie ist der beste Nährboden für ein friedliches Miteinander.» Da lauschte auch eine Klasse der Privatschule Préparation aux Examens Préalables des hautes écoles suisses PrEP in Lausanne interessiert, die extra vom Genfersee anreiste und später ein Gruppenbild mit der Bundesrätin machen durfte. Während das Landsgemeindemandat letztes Jahr noch rekordverdächtig wenige 60 Seiten umfasste, waren es heuer 188 Seiten.

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Totalrevidierte Kantonsverfassung angenommen

Umstrittene Punkte in der neuen Verfassung, die zu Diskussionen und einem Rückweisungsantrag führten, war die höhere Finanzkompetenz der Regierung und die neue Notrechtsregelung – eine Lehre aus der Pandemie –, ein verkürzter Amtszwang, sowie das Stimmrecht für alle – beispielsweise auch für urteilsunfähige Menschen. Die Stimmbevölkerung hat am 28. April 2024 an der Landsgemeinde in Appenzell die neue totalrevidierte Kantonsverfassung nach längeren Diskussionen angenommen. Die Landsgemeinde wird in Zukunft über Ausgaben ab zwei Millionen Franken entscheiden können (bis anhin bei einer Million). Die neue Verfassung kann voraussichtlich 2027 in Kraft treten. Es ist die erste Änderung seit 152 Jahren.

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Mit dem Abstimmungsresultat (siehe Kasten) war unter anderem Martin Koster, Landwirt und früherer Besamer aus Appenzell nicht zufrieden. «Ich hätte mir bei der Totalrevision unserer Kantonsverfassung einen anderen Entscheid gewünscht. Für mich beginnt die Landsgemeinde eh erst um 15 Uhr, wenn der offizielle Teil vorbei ist», sagt der 72-Jährige. Die Freinacht dauerte bis in den Montagmorgen hinein. «Es waren noch um 5 Uhr 30 einzelne unterwegs, aber so um vier Uhr war für viele Feierabend», sagte ein Appenzeller Gastronom.

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Zunehmendes Medieninteresse

«Die Landsgemeinde ist für den kleinen Kanton Appenzell Innerrhoden in höchstem Masse identitätsstiftend», schreibt die Regierung. Das Medieninteresse an der Landsgemeinde ist zunehmend. Auch ausländische Zeitungen berichten darüber. «Im Vergleich zu Vorjahren hatten sich etwas mehr angemeldet», bestätigt Michaela Inauen von der Kommunikationsstelle des Kantons. Rund 16 Medienschaffende hatten sich bei der Ratskanzlei immatrikuliert. Für sie gab es einen besonderen Sektor am Ring.

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Da als Ehrengast auch die norwegische Botschafterin in der Schweiz, Kjersti Rødsmoen, kam, berichtet sogar das «Morgenbladet» aus Oslo über den Anlass. Aus Deutschland meldete sich die Süddeutsche Zeitung. Primär berichteten Ostschweizer Medien über den politischen Anlass. So die Ostschweiz, Appenzeller Zeitung, Appenzeller Volksfreund, St. Galler Bauer, Schweizer Fernsehen, Fernsehen TVO, die nationale Nachrichten- und Bildagentur Keystone-SDA. Vor Ort waren das Radio SRF mit dem Regionaljournal Ostschweiz, sowie auch Blogger. Die Landsgemeinde wurde via Vimeo live übertragen.

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Nach Ende des Landsgemeinde waren Restaurants und Festzelte ausgebucht und die Gassen voll. Das Volksfest konnte steigen. Siedwürste mit Kartoffelsalat oder «Chäsmagerone» sind die Klassiker. Roland Inauen, 69, wiedergewähler regierender Landammann: «Über eine gute Appenzeller Südwooscht geht nichts und Hedepfelsalood hat jede und jeder gern.»

Und was meinte der hohe Besuch? Ehrengast Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider war, auf Anfrage unserer Zeitung, von der Landsgemeinde sehr erfreut: «Ein gutes Beispiel lebendiger Demokratie, besonders bei der Diskussion um die Kantonsverfassung. Auch der Gottesdienst gefiel mir sehr. Schon morgens zum Frühstück eine Siedwurst, das war für mich ein bisschen schwer.»

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Landsgemeindespezialitäten: Siedwurst und süsse Krapfen

Nach Ende des Landsgemeinde waren Restaurants und Festzelte ausgebucht und die Gassen voll. Das Volksfest konnte steigen. Siedwürste mit Kartoffelsalat oder «Chäsmagerone» sind die Klassiker. Roland Inauen, 69, wiedergewähler regierender Landammann: «Über eine gute Appenzeller Südwooscht geht nichts und Hedepfelsalood hat jede und jeder gern.»

Für die zahlreichen Ehrengäste durfte auch heuer Markus Wetter, 65, diplomierter Metzgermeister in Appenzell, die etwas grösseren Landsgemeinde-Appenzeller Siedwürste IGP produzieren. «Dies ist eine Ehre für mich und unser 1957 von Josef und Marie-Louise Wetter beim Hotel Krone gegründetes Familienunternehmen für Fleischspezialitäten.»

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Hergestellt wird die beliebte Wurst vorwiegend aus Rind- und Schweinefleisch mit dem typischen leichten Geschmack nach Kümmel und Knoblauch. «Das Brät», so Markus Wetter, «wird in einen Rinds- oder Schweinsdarm gestossen, heutzutage auch vielfach in einen Kollagendarm, welcher mehrere Vorteile für den Konsumenten hat. Typisch sind die Holzspiessli, mit welchen die Wurst abgetrennt wird. Unsere Siedwürste sind rund 16 bis 17 Zentimeter lang und wiegen 150 Gramm. Der Kilopreis beträgt 26 Franken.» Die Metzgerei mit rund 30 Angestellten produziert auch Würste auf Kundenwunsch. So zum Beispiel Party-Siedwürste mit 50-60 Gramm (g) oder eben für die Landsgemeinde wiegen sie 180 g. Die genaue Bezeichnung ist Appenzeller Siedwurst IGP. «Bei uns ist es sogar ein zertifiziertes Bergprodukt, da alle Zutaten – ausser den Reingewürzen – aus dem Berggebiet kommen. Es ist auch im Detailhandel bei Coop etc. erhältlich», freut sich Wetter.

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Welche Würste die besten sind, ist Geschmackssache. «Jeder Metzger hat sein eigenes Rezept und logisch hat jeder die beste Wurst», sagt Käthi Fässler, die seit 1996 die Küche im renommierten Hotel Hof Weissbad in Appenzell Innerhoden führt. «Die Siedwurst ist aus Rindsbrät und warum diese zusammen mit Chäsmagronen oder Kartoffelsalat an der Landsgemeinde gerne gegessen wird, weiss ich leider nicht genau. Im Hof Weissbad bieten wir das ganze Jahr über ‹Südwöscht› an.» Manche Hotel- und Restaurantbetriebe würden extra zur Landsgemeinde etwas grössere und schwerere Siedwürste bestellen, damit die Stimmbürger auch genug Energie zum Abstimmen und zum nachher stattfindenden geselligen Beisammensein zur Verfügung hätten, meint die Spitzenköchin (16 Gault-Millau-Punkte). «Viele Stimmbürgerinnen und -bürger laufen traditionell an die Landsgemeinde und für den Heimweg braucht man ja auch noch Kraftreserven. Wie schon so oft, zeigt sich der April nicht immer von der freundlichsten Seite und so ein deftiges Gericht mag dann halt genau das Richtige sein.»

Fässler Metzgerei: Wiederentdeckung der Südwurst

Die Metzgerei Fässler AG in Appenzell ist über hundert Jahre alt. Grossvater Franz Fässler (1930-2017) habe einmal gesagt, dass in Innerrhoden früher keinesfalls die Siedwurst als Landsgemeindemenü Tradition hatte. «Dies war in Ausserrhoden der Fall. Erst in den 1980er- und 1990er-Jahren habe sich diese Tradition in Appenzell Innerrhoden etabliert. Früher hat man die Siedwurst fast ausschliesslich mit Kartoffelsalat gegessen, nie mit Chäsmageronen. Heute ist es eher umgekehrt – häufiger mit ‹Chäsmageronen› statt mit Salat», sagt Denise Meyer-Fässler, 33, von der Metzgerei Fässler in Appenzell. Die diplomierte Hôtelière führt die traditionsreiche Metzgerei in fünfter Generation gemeinsam mit ihren beiden Brüdern Reto und Benjamin. Sie ist auch für die Administration und Anlässe zuständig.

Dass man die Siedwurst heute als Landsgemeindemenu anbietet kommt nach Ansicht ihres Vaters, Franz Fässler-Räss (60) daher, weil es die Landsgemeinde in Ausserrhoden nicht mehr gibt. So habe man diese Tradition von Appenzell Ausserrhoden übernommen. «Nichtsdestotrotz ist es für uns natürlich schön, dass man die Siedwurst ‹wiederentdeckt›» hat und sie immer beliebter wird, was sich auch in den Menukarten der Restaurants und an unserem Absatz widerspiegelt», sagt Denise Meyer-Fässler.

Süsse «Landsgmeend-Chröm»

Eine süsse Spezialität waren einst die süssen «Landsgmeend-Chröm», die Chrempfli oder Leckeli. Früher brachten die Männer nach der Landsgemeinde ihren Frauen und Familien «Landsgmeend-Chröm» mit nach Hause, als Dank fürs «gome», für das hüten der Kinder. Heute kann man sich das ganze Jahr an den speziellen Krapfen erfreuen. Auch ein Leibwächter von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider trug eine grosse Tüte der Köstlichkeit neben ihr her. Eine Haselnussfüllung bildet den Kern dieses weichen «Chröms», das mit einer Prise Anis oder sogar Bergamotte versehen ist. Die Chrempfli werden – beispielsweise in der Appenzeller Bäckerei Böhli – auf der Vorderseite des hellen, fast weissen Teiges mit einem schönen Blumenrelief verziert; nach traditionellem Familienrezept von Hand.

(Alle Bilder: Urs Oskar Keller)

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Urs Oskar Keller

Urs Oskar Keller (*1955) ist Journalist und Fotoreporter. Er lebt in Landschlacht.

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