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Adrian Zeller

Lange Bank

In einigen Gemeinden erscheint die Kulturpolitik nicht viel mehr als eine lästige Pflichtübung. Im Internetzeitalter muss sie auf der politischen Prioritätenliste weit nach vorne rücken.

Adrian Zeller am 07. Mai 2019

Was haben «Gschwelti» und Kunst gemeinsam? An beiden kann man sich leicht den Mund verbrennen. Ein neues Feuerwehrfahrzeug oder ein frisch renoviertes Schulhaus machen etwas her. Sie präsentieren sich gut im Leistungsausweis einer Stadträtin oder eines Gemeinderates.

Schwieriger wird es mit der neuen Kunstinstallation in der Mitte des Verkehrskreisels: Manche Bürger kritisieren die unergründliche Skulptur als Verschleuderung von öffentlichen Geldern für einen Schandfleck. Anderen ist sie zu mutlos.

In der Kulturpolitik kann man es nie allen recht machen. So kann es leicht passieren, dass die heisse Kartoffel «Kultur» in der Pendenzenliste der Kommunalpolitik auf die lange Bank gerät und nur zögerlich nach vorne rückt.

Es liegt in ihrer Natur, dass Kunst polarisiert, sie entzieht sich den üblichen Rastern von Zweckmässigkeit, Kontrollierbarkeit und Rendite. Ihrem Wesen nach hat sie etwas Anarchisches; gelegentlich stellt sie sogar die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage - oder sogar ins Lächerliche; Friedrich Dürrenmatt lässt grüssen. All dies macht sie nicht zum Lieblingsthema von Politisierenden.

Gelegentlich setzen die Behörden aus Verlegenheit eine Kommission ein, auf deren hochtrabenden Expertisen man sich bei allfälliger Opposition berufen kann. Nach dem zugespitzten Motto: Wer in verbogenem Eisen oder in zerrissenen Lumpen nicht die metaphysischen Anspielungen erkennt, outet sich als provinzieller Bünzli.

Staatlich beschaffte Kunst wird gelegentlich gar zum Trostpflaster oder zum Feigenblatt: «Kunst im öffentliche Raum resultiert manchmal aus dem schlechten Gewissen der Architekten und Stadtplaner, die eine verhunzte Gegend aufpeppen wollen, manchmal steckt ein Sozialprogramm für lokale Künstler dahinter, denen Aufträge zugeschoben werden sollen», schreibt der Kunsthistoriker Christian Saehrendt.

Seit das Internet das Mass aller Dinge ist, ist es allerhöchste Zeit, die lokale Kultur nicht mehr länger wie einen lästigen Fürsorgefall für das niemand wirklich zuständig sein will, zu behandeln. Im Standortmarketing gehört ihr ein prominenter Platz, der Grund heisst: digitaler Wandel. Das World Wide Web vernetzt Menschen über Kontinente und soziale Schranken hinweg. Aber Kontakte sind keine Beziehungen, dafür braucht es persönliche Begegnungen. Nur wo Menschen zusammenkommen entstehen Freundschaften und gute Nachbarschaften.

Nachdem die Kirchen im gesellschaftlichen Leben kaum mehr eine zentrale Rolle spielen, sind Kulturanlässe Begegnungsorte. An Vernissagen, an Lesungen, an Kabarettvorstellungen, in Chorproben und in den Pausen von Konzerten und von Theateraufführungen tauscht man sich aus und pflegt Beziehungen.

«Je digitaler und technisierter die Welt, desto grösser ist auch weiterhin das Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Kontakten, die durch enge Beziehungen und soziale Bindungen genährt werden», schreibt der WEF-Gründer Klaus Schwab. «Wenn persönliche Gespräche von digitalen Interaktionen verdrängt werden, wächst die Sorge, dass eine ganze Generation junger, von sozialen Medien vereinnahmter Menschen heranwächst, die Probleme haben könnten, zuzuhören, Blickkontakt herzustellen oder Körpersprache zu deuten.»

Kommunalpolitiker, die der Anonymisierung etwas entgegensetzen wollen, sind gut beraten, das Potential der Kultur zu nutzen und private Initiativen nicht mit einer Formularflut und kleinlicher Auslegung von Vorschriften zu untergraben.

Nachdem die Einkaufsstrassen von internationalen Handelsketten geprägt werden, sind die Stadtzentren austauschbar geworden, Kultur durchbricht die Gleichförmigkeit und schafft örtliche Identitäten.

Kulturpolitik ist letztlich Gesellschaftspolitik. In einem aktiven Gemeindeleben funktioniert die Nachbarschaftshilfe besser, finden Schulabgänger leichter eine Lehrstelle und werden Neuzuzüger rascher integriert.

Wo es dagegen kaum lokale zwischenmenschliche Begegnungsorte gibt, müssen sich staatliche Stellen, sprich: die öffentliche Hand, vermehrt um Alleinerziehende, hilfsbedürftige Betagte, schlecht Integrierte und sozial Auffällige kümmern; dies kann teuer werden.

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Autor/in
Adrian Zeller

Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.

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