Die Schweiz läuft einem Gespenst davon - dem Gespenst des tödlichen Virus. Die Regierung handelt nicht, weil in unserem Land etwas Schlimmes passiert, sondern weil etwas passieren könnte. Ein Gastbeitrag der Autorin Nicole Chisholm.
Die Politiker verharren im «sicher-ist-sicher»-Denkloop. Das Vorsorgeprinzip ist zu einem gewaltigen Drachenmaul geworden, das alles nebst Corona restlos verschlingt. Wo führt das auf Dauer hin?
Es heisst, es gehe um unsere Gesundheit. Darum plustert sich Vater Staat zu einem Erziehungsberechtigten auf, der als Gutmensch mit schützender Hand über seine Sippe wacht und das Vorsorgeprinzip bis zum Exzess vor sich hertreibt. Der Staat tut das nicht aus Menschenliebe. Die Bundesräte sind darin bestrebt, sich nichts zu Schulden kommen zu lassen. Es geht nicht um die Sache, sondern um ihre weisse Weste. Dass sie in allen anderen Belangen Schuld auf sich laden, sind sich die Entscheidungsträger kaum bewusst.
Warum nicht? Es findet eine Verschiebung der Werte statt. Wo es vorher galt, für die Bürger in allen Lebensbereichen einen fairen Rahmen zu schaffen, erhält nun das Virus die oberste Priorität. Der Schutz vor Covid wird wie durch eine Lupe hundertfach vergrössert, wogegen die Folgen der Massnahmen automatisch klein wirken. Und mit dieser Priorisierung spricht sich der Bundesrat von aller Schuld frei. Und genau so geht es auf Kantonsebene weiter. Wie in einem Wettbewerb überbieten sich viele Kantone mit ihren Massnahmen, um die Bestnote in Sachen «Virus-Priorität» zu erhalten.
Sicher-ist-sicher gilt aber eben nur für Corona, nicht aber für die anderen Lebensbereiche. Das müsste eigentlich zu einem Dilemma führen. Wenn durch Lockdowns, Schliessungen von Geschäften und strenge Auflagen die kleinen und mittelständischen Unternehmen ausgelöscht und Existenzen vernichtet werden, führt das unweigerlich auch zu gesundheitlichen Problemen. Wenn wir fortan die Hygiene auf die Spitze treiben und Infektionen jeder Art vermeiden, schwächen wir dadurch das Immunsystem und tragen dazu bei, das Problem der multiresistenten Keime zu einer echten Bedrohung zu machen. Und wenn Distanz auf unbestimmte Zeit auch noch mit einer Gesichtsbedeckung verstärkt wird, verändert das unsere Gesellschaft nicht in Richtung «miteinander», sondern in Richtung «Vereinsamung». Aber all das spielt eine untergeordnete Rolle, weil diese Probleme als zweitrangig bewertet werden. Die angestrebte, einseitige Sicherheit verkommt somit zu einer Dampfwalze, die alles andere plattmacht, damit man sich dem Dilemma gar nicht erst stellen muss.
Man sollte auch nicht vergessen: Das Prinzip sicher-ist-sicher kennt keine Grenzen, weder zeitlich noch in seinem Ausmass. Was vor ein paar Monaten noch als sicher-ist-sicher bewertet wurde, gilt nun bereits als zu unsicher. Die Latte für die Sicherheit wird beständig höher gelegt. Da ist nach oben noch unendlich viel Luft. Man kann das Gedankenspiel dieser unendlichen Sicherheitsstrategie beliebig ad absurdum weiterführen und sich ausmalen, dass wir in ein paar Monaten alle von Kopf bis Fuss in Schutzanzügen durch die Gegend laufen, hermetisch abgeriegelt, und uns nur noch über technologische Hilfsmittel verständigen.
Klingt das irr? Aber genau darum geht es. Es ist alles möglich. Wo ist die Grenze? Wo hört die Sicherheit auf und wo beginnt der Irrsinn? Und was tun wir heute schon alles selbstverständlich, was unser gesunder Menschenverstand noch vor sechs Monaten für lächerlich befunden hätte? Aber das Volk, das sukzessive verängstigt wurde, macht alles mit. Nach monatelangem Predigen, was alles Schlimmes passieren könnte, und der Umprogrammierung der Hirnzellen, wie ein guter Mensch heutzutage zu denken hat, bleibt der grosse Widerstand aus. Sicher-ist-sicher, gell? Man will nicht zu den Querulanten gehören, die aus der Reihe tanzen. Man will ein solidarischer Bürger sein. Die Indoktrination der neuen Priorität fruchtet so gut, dass manche zuweilen von selbst nach noch mehr Schutzmassnahmen schreien. Und die Regierenden greifen das auf und fühlen sich in ihrem neuen Wertesystem bestätigt. Eine Abwärtsspirale sondergleichen.
Was für eine Gesellschaft wollen wir sein? Was hat für uns Wert? Sind es die Alten und Schwachen? Sind es die Jungen, die das Leben noch vor sich haben? Sind es die Krebskranken? Oder all jene, die das Existenzminimum durch die Krise verlieren könnten? Dürfen nicht alle wichtig sein? Diese Fragen können nur wir – das Volk – entscheiden und nicht der Staat. Politiker wurden gewählt, weil sie mit unseren kollektiven Werten in Resonanz gehen und unsere Interessen vertreten. Doch in dieser Krise handeln sie nicht mehr nach diesen gemeinsamen Werten, sondern picken sich eine einzige Priorität heraus: das Virus. Und das Volk darf nicht mitreden, ob das angemessen ist oder nicht.
Die sicher-ist-sicher-Strategie segelt an der Realität vorbei. Die staatlichen Erziehungsberechtigten handeln von ihrem Elfenbeinturm aus, getrieben von der neuen Priorität und zum Schutze ihrer selbst. Es gibt nicht einmal ein realistisches Ziel, das definiert: Wenn X oder Y eintrifft, können die Massnahmen aufgehoben werden. Und wäre es das Ziel, das Virus auszurotten, müssten wir für immer so leben wie jetzt.
Man muss sich deshalb entscheiden: Entweder leben wir mit diesem Virus und gewähren auch dem Leben nebst dem Virus einen normalen Freiraum. Oder wir legen uns alle für den Rest des Lebens ins Bett, um dem stacheligen, roten Ding zu entkommen.
Ich finde jedoch: Leben heisst nicht nur, nicht zu sterben.
Nicole Chisholm (*1976) ist Autorin von historischen Romanen und Thriller. Sie lebt in Bern.
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