Dass im Krisenmanagement Fehler passieren, ist kaum zu vermeiden. Die Methodik der Stabsarbeit besagt auch: Besser rechtzeitig eine taugliche Lösung als die perfekte Lösung, wenn es schon zu spät ist. Wenn Szenarien schon vor dem Ereignisfall durchdacht wurden, sinkt das Risiko von Fehlern gewaltig.
Dass in der gegenwärtigen Krise viele Pläne nicht oder nicht vollständig vorbereitet worden sind, haben wir an dieser Stelle bereits kritisiert. Wie die Situation heute zeigt, sind die Versäumnisse von gestern schwer aufzuholen: Der Mangel an Masken erscheint erst jetzt, nach doch schon 8 Wochen Lockdown, langsam behoben zu sein.
Wichtig und eine Qualität eines Krisenstabs ist es auch, laufend aus vorangegangenen Fehlern zu lernen und es besser zu machen. Wir haben an dieser Stelle vor zwei Wochen das Vorgehen des Bundesrates kritisiert, der zunächst vollmundig ankündigte, in Einkaufszentren wieder das volle Sortiment freizugeben, dann aber zurückkrebsen musste unter dem Druck des Gewerbes. Die Ostschweizer Bundesrätin Karin Keller-Sutter räumte schliesslich öffentlich Fehler in der Kommunikation ein.
Gleichwohl haben der Bundesrat und sein Krisenmanagement offenbar nichts gelernt und letzte Woche denselben Fehler wiederholt: In Bezug auf die Öffnung der Restaurants hiess es zunächst, jeder Gast müsse zur Nachverfolgbarkeit seine Daten hinterlassen.
Und dann? Oops, we did it again: Nach einigen Tagen der Gegenbefehl, weil der eidgenössische Datenschutzbeauftragte Zweifel angemeldet hatte. Wieder also hat der Bundesrat Massnahmen beschlossen und kommuniziert, ohne die Reaktionen darauf von Seiten von allen relevanten Stakeholdern zu reflektieren. Und dass bei Datensammlungen in der heutigen Zeit die Meinung des Datenschutzbeauftragten miteinbezogen werden müsste, hätte eigentlich auch der Landesregierung bewusst sein können. Zumal im Zusammenhang mit der Tracking-App die Fragen des Datenschutzes schon längere Zeit virulent sind.
Wie vermeidet man solche Fehler?
Die Spezialisten unseres Fachs verwenden dazu das Instrument des 360-Grad-Feedbacks. Das Instrument ist, zugegebenermassen, «gestohlen». Es stammt aus der Personalführung und wird zum Teil in Betrieben angewendet. Anstelle einer klassischen Top-Down Mitarbeiterbeurteilung im Rahmen eines jährlichen Mitarbeitergesprächs bedeuten solche 360-Grad-Feedbacks, dass die Mitarbeiter/innen zwar wie gewohnt von ihrem Vorgesetzten Feedback erhalten, aber eben auch ihm Feedback gibt auf seine Tätigkeit als Vorgesetzter geben. Und weil das Ding 360-Grad-Feedback heisst, werden solche Gespräche rundherum mit allen geführt, mit denen eine Person im Betrieb zusammenarbeitet. Natürlich verlangt das nach einer fortgeschrittenen Kommunikationskultur und einer professionellen Anleitung.
Aber zurück zur Stabsarbeit. Der Krisenkommunikationsspezialist wendet das 360-Grad-Feedback Prinzip an, indem er bei jeder Massnahme, die ein Stab beschliessen (und in der Folge kommunizieren) will, rundherum abcheckt, welche Reaktionen von den verschiedenen Stakeholdern zu erwarten sind. Wir würden im konkreten Falle der Restaurant-Wiedereröffnungen natürlich zunächst fragen: Was sagen die Wirte dazu? Und was sagen die Arbeitnehmervertreter/innen der Gastro-Branche dazu?
Aber damit ist es noch nicht getan. Denn auch weitere Kreise werden ihren Senf dazu geben. Die politischen Parteien. Die Vermieter (ja, auch sie: die Frage nach Mieterlassen schwebt ja bereits im Raum), die Lieferanten der Wirte (insbesondere beispielsweise Einkaufsgenossenschaften), Gäste, die Mediziner, die Vollzugsorgane (Polizeikorps, welche beschlossene Massnahmen durchsetzen müssen), Opinion Leaders (z.B. in den Medien inklusive Social Media) und nicht zuletzt eben auch die Datenschützer.
Die kleine (und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende) Auflistung zeigt: Einige dieser Gruppen sind organisiert (in unserem Beispiel etwa über Gastrosuisse). Andere sind es überhaupt nicht (z.B. die Gäste). Einige Stakeholder sind straff organisiert (da schert niemand aus und kritisiert in der Öffentlichkeit die Verbandsposition, weil alle wissen: Das schwächt die Verhandlungsmacht). Andere Stakeholdergruppen sind Flohzirkusse, wo viele sich berufen fühlen, auszuscheren und ihren eigenen Senf dazu zu geben (DER Klassiker zurzeit: die Mediziner).
Wohlverstanden: Praktisch immer wird ein solcher 360-Grad-Check ergeben, dass da und dort mit Widerstand und Kritik zu rechnen ist. Wichtig ist, dies rechtzeitig zu erkennen und zu reagieren. Es ist eine der Dienstleistungen der Krisenkommunikation, in einem Krisenstab solche Überlegungen einzubringen.
Eine Reaktion dann kann sein, dass eine Massnahme ganz verworfen werden muss. Wenn das 360-Grad-Feedback beispielsweise aus Juristenkreisen das Feedback zeitigt, dass eine Massnahme den rechtlich möglichen Rahmen sprengt. Meist reicht es aber, eine geplante Massnahme anzupassen. Und gewisser Kritik kann manchmal auch mit flankierenden Kommunikationsmassnahmen begegnet werden. Stichwort: Mögliche Einwände bereits bei der Präsentation der Massnahmen vorwegnehmen und adressieren.
Bei den Entscheiden des Bundesrats haben wir innerhalb kürzester Zeit zwei Mal erlebt, dass Kritik und Widerstand gegen eine Massnahme so mächtig und/oder juristisch gut begründet waren, dass die Massnahmen angepasst werden mussten. Im Nachhinein. Der bundesrätliche Krisenstab hat nichts aus dem ersten Debakel gelernt.
Die mangelnde Koordination zwischen den Kantonen hatten wir schon vor acht Wochen moniert. Damals waren es vorwiegend die Gesundheitsdirektoren, die von der überforderten St. Galler Gesundheitsdirektorin Hanselmann nicht auf Linie zu bringen waren. Gegenwärtig sind es insbesondere die Erziehungsdirektoren unter der Zürcher Erziehungsdirektorin Steiner, die eine schlechte Figur abgeben. Fazit: Auch bei den Kantonen ist keine Lernkurve ersichtlich.
Wie aber stellt man in der Praxis sicher, dass Krisenstäbe zu lernenden Organisationen werden?
Viele Stäbe lassen sich dafür coachen. Weil sie wissen, dass in einer Krise das Risiko besteht, einen Tunnelblick zu entwickeln, holen Sie sich Fachleute, die «von aussen» auf die Thematik schauen. Neudeutsch spricht man im Management manchmal auch von Soundingboard oder Second Opinion (richtig, die Begriffe sind in diesem Zusammenhang nicht völlig korrekt verwendet, aber am Ende zählt das Resultat).
Der externe Berater wird meist dem Stabschef zur Seite gestellt und gibt ihm seine Inputs. (Der Stabschef ist diejenige Person, welche die Arbeit eines Krisenstabs koordiniert, selbst aber nicht entscheidet.) Voraussetzung, dass ein solches Vorgehen gelingen kann, ist natürlich die Lernbereitschaft eines Krisenstabs und der Entscheidungsträger, welche über die Anträge des Stabs schliesslich entscheiden. In der Privatwirtschaft werden Mitglieder einer Krisenorganisation, die sich in das Gefüge nicht integrieren können, ausgewechselt. In Strukturen, die denen Mitglieder der Stäbe und/oder Entscheidungsträger politisch Gewählte sind, ist das naturgemäss schwieriger. Deshalb schauen wir in der kommenden Kolumne auf die vielen Krisenorganisationen des Bundes und wie dessen Arbeit in dieser Krise funktioniert hat.
Roger Huber (1964) und Patrick Senn (1969) sind ehemalige Ostschweizer Journalisten, die lange Jahre bei nationalen Medientiteln gearbeitet haben. Heute unterstützen Sie Organisationen und Führungskräfte in der Krisenkommunikation und sind Gründungsmitglieder des Verbandes für Krisenkommunikation vkk.
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