Dass sie bei jedem Windhauch stürzen wie eine gefällte Eiche: Daran haben wir uns langsam gewöhnt. Aber neuerdings treten Fussballer auch als emotionale Pflänzchen auf. Das aktuelle Beispiele stammt aus den Reihen des FC St.Gallen.
805 Minuten durfte der Stürmer Nassim Ben Khalifa laut «20 Minuten» für den FC St.Gallen im Ernstfall auf dem Rasen stehen. Das sind rund 13,5 Stunden. In diesem Zeitraum gelang dem früheren Nationalspieler ein Zuspiel, das zu einem Erfolg führte. Selbst kennt er das befreiende Gefühl des Torjubels beim FCSG nicht.
Das ist eine Bilanz, die nicht mehr unter «temporärer Flaute» abgebucht werden kann. Es ist die totale Nutzlosigkeit auf einer Position, in der es darum geht, Tore zu machen. Wer denn sonst? Der Goalie? Oder der Trainer selbst?
Man kann mit einem solchen Spieler viel versuchen. Ihm gut zureden, ihn aufbauen, ihm professionelle Hilfe anbieten. Vielleicht ist auch einiges davon geschehen in der Vergangenheit. Letztendlich wurde Nassim Ben Khalifa aber bei seinem Arbeitgeber faktisch ausgemustert. Seit Ende 2018 spielt er keine Rolle mehr beim FC St.Gallen, das Trainingslager fand ohne ihn statt, ebenso das Training der ersten Mannschaft, ein neuer Stürmer wurde geholt.
Es ist begreiflich. Beim FCSG stehen sich die potenziellen Torjäger nun nicht gerade auf den Füssen herum. Und wenn ein vielversprechender Stürmer in 13,5 Stunden keinen Mehrwert erbringt, bringt das die Führungsetage ins Grübeln.
Aber nun schlägt Ben Khalifa zurück. Was mit ihm geschehen sei, das sei Mobbing und Persönlichkeitsverletzung, sagt er - und verklagt seinen eigenen Club.
Natürlich ist die Situation für ihn ungemütlich. Wenn er nicht spielt, rauscht sein Marktwert abwärts - wobei offen gesagt die Stunden, in denen er spielte, seinen Marktwert auch nicht gerade in die Höhe trieben. Und wenn er nicht mehr trainieren kann und, wie er behauptet, nicht mehr auf die medizinische Infrastruktur zurückgreifen kann, ist das der eigenen Form ebenfalls nicht zuträglich.
Die Frage, die nun wohl juristisch geklärt werden muss: Welche Rechte bestehen automatisch durch einen laufenden Vertrag - und welche müssen sich mit Leistung «erworben» werden?
Fussball ist Wettbewerb. Nicht nur unter den Clubs, sondern auch innerhalb jedes Vereins. Da gibt es den Druck, besser als die anderen zu sein. Das ist nicht unbedingt angenehm, es wird aber ordentlich vergütet. Viele Fussballer, selbst in der bescheidenen Super League, bewegen sich finanziell in Sphären, die sie ohne ihr Talent niemals erreichen würden.
Das sei ihnen durchaus gegönnt. Aber wer sich auf das Spiel einlässt, der geht auch das Risiko ein, rauszukegeln. Zum Beispiel, indem man im Club plötzlich keine Rolle mehr spielt. Die Frage bei Ben Khalifa wird daher sein: Steht ihm der FCSG vor der Sonne beim Versuch, anderswo sein Glück zu finden? Falls ja, wäre es nur fair, ihm die Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung zu geben. Wenn nein, ist der Spieler selbst gefordert, sich bei anderen potenziellen Arbeitgebern aufzudrängen.
Die ganze Geschichte ist auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklung zu betrachten. Natürlich sind die Anforderungen heute höher als früher. Und dennoch denkt man als älteres Semester unweigerlich zurück an Helden der Schweizer Nationalmannschaft, denen kein Einsatz zu viel war.
Nati-Goalie Roger Berbig absolvierte neben seiner Karriere ein Medizinstudium, Nati-Stürmer Claudio Sulser wurde nebenbei mal locker Anwalt. Es sind Namen, die jüngere Fussballfans nicht mehr kennen, aber sie sind Vorbilder. Und heute jammern die fett besoldeten Spieler, die sich um nichts als ihre sportliche Laufbahn kümmern müssen, wenn man sie nicht ins Trainingslager mitnimmt?
Da drängt sich der Vergleich mit dem Handball auf. Zwar schauen da weniger Leute zu, wenn gespielt wird, die sportliche Leistung ist aber nicht tiefer einzuschätzen. Für ein absolutes Trinkgeld - wenn überhaupt - absolvieren die Schweizer Spieler in der obersten Liga ihre Trainings und Partien, und keinem von ihnen käme es in den Sinn, von seinem Verein mehr zu verlangen.
Wenn sich nun ein Fussballspieler, der 13,5 Stunden lang Gelegenheit erhalten hat, sich und sein Können auf höchster Ebene zu präsentieren, gemobbt fühlt, muss sich jedes echte Mobbingopfer seltsam fühlen. Wer kann schon, wie es Nassim Ben Khalifa nun tut, via Medien an die ganze Schweiz richten und sein Schicksal beklagen?
Oder anders gefragt: Welcher Totalausfall in der Privatwirtschaft wird schon bei vollem Lohn weiterbeschäftigt, obwohl er faktisch die gemeinsam anvisierten Ziele nicht erreicht? Würde sich ein Informatiker, Schreiner oder Callcenter-Mitarbeiter bei diesen Voraussetzungen beschweren über «Mobbing»?
Fussballer sind heute Diven. Nicht alle, aber in einer beunruhigenden Anzahl. Sie setzen auch dann viel voraus, wenn sie selbst nicht abliefern. Und sie können sich stets hinter dem Argument verstecken, dass sie ja leisten könnten, wenn man sie denn liesse.
Nur hat man diesen Mann lange gelassen, und es schaute nichts dabei heraus. Die Gesetze des Marktes sind diesbezüglich erbarmungslos. Aber Fussballspieler sind in dieser Situation viel besser geschützt, immerhin haben sie in der Regel Verträge über ein Jahr oder mehrere. Davon können normale Arbeitnehmer nur träumen. Und dürfen sich in solchen Fällen mit einer Freistellung oder einer fristlosen Kündigung herumschlagen.
Das Problem ist nur: Die Fussballer der heutigen Generation haben keinen blassen Schimmer, wie das bei ganz normalen Arbeitnehmern so läuft. Sie kennen nur ihren Elfenbeinturm.
Und natürlich: Tattoos kosten, Haargel ebenso, und die Leasingrate für den Porsche Cayenne will bezahlt sein.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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