Seit der Jahrtausendwende stellen Forschende in den Städten einen Wandel zur südlich inspirierten Lebensweise fest. Gelati stracciatella und Latte macchiato unter freiem Himmel bringen neue Herausforderungen für den urbanen Raum mit sich.
Forscherinnen und Forscher haben auf Luftaufnahmen die Anzahl der Sonnenschirme vor Gastronomiebetrieben in Städten gezählt. In den letzten Jahren haben sie sich erkennbar vermehrt. Auch die Anzahl der Aussen-Sitzplätze bei Cafés, Pizzerias und Imbissständen haben messbar zugenommen; die Schutzkonzepte während der Pandemie dürften bei dieser Entwicklung mitgespielt haben.
Das vermehrte Verweilen im Freien bezeichnen die Wissenschaftler als Mediterranisierung der Städte. Das beliebte Fahren mit der Vespa sowie die Vorliebe für Espresso, Prosecco und Aperol Spritz sind weitere Anzeichen des verstärkten südlichen Flairs, das man von Rapperswil bis Kreuzlingen feststellen kann. In der Statistik fällt zudem auf, dass der Import von italienischem Reibkäse zugenommen hat.
Dass die südländisch inspirierte Lebensweise beim Publikum auf immer mehr Gegenliebe stösst, hat mit einem allmählichen Mentalitätswandel zu tun, glauben Forscher der Berliner Humboldt-Universität.
Gewandelte Zusammenkünfte
Als Gründe für das sich verändernde Lebensgefühls in Mitteleuropa, erkennen die Wissenschaftler ein Bündel von Ursachen: zunächst ist da die Zuwanderung, die das Menüangebot immer vielfältiger werden lässt. Tapas und Faijtas haben längst ihren exotischen Touch verloren. Mit Freunden trifft man sich mittlerweile zur Tavolata. Und wo einst Quartierbewohner am Stammtisch politisierten, steht jetzt ein Pizzaofen.
Die Mediziner ihrerseits empfehlen die Mittelmeer-Diät mit viel Fisch, Gemüse und Olivenöl, die Schlaganfälle, Diabetes, Herzprobleme vorbeugt.
Neue Vorlieben in der Verpflegung
Ein weiterer Grund für das Italien-Flair im Alltag, ist der Tourismus: die Einwohner der Schweiz gehören zu den reisefreudigsten Völkern der Welt, gewachsene Sympathie für griechischen Salat, Fruta di mare sowie Tomaten mit Mozzarella und Basilikum sind die Folgen. Was man auf Elba, Fuerteventura oder Kreta genossen hat, möchte man zuhause als eine Prise Ferienstimmung nicht missen. Hinzu kommt der Trend zur Verpflegen unterwegs: Focaccia ist in der schnelllebigen Zeit die handliche Alternative zum Hackbraten mit Kartoffelstock in der Firmenkantine.
Für die Forscher gibt es weitere Gründe für eine Brise Mittelmeer im Alltag: die Menschen wollen sich weniger festlegen als früher, dank der Digitalisierung werden die Grenzen zwischen der Arbeitswelt und der Freizeit fliessender, die Förmlichkeiten werden aufgeweicht. Für das Entwickeln eines kreativen Businesskonzeptes braucht es nicht unbedingt ein Sitzungszimmer, auch ein lauschiges Plätzchen unter einem Sonnenschirm beflügelt die Fantasie. Und das Geschäftsessen eines Startups kann auch mal der Pizzaservice vorbeibringen.
Wärmere Sommer
Die Entwicklung in Richtung südlicher Lebensstil, wird gemäss den Wissenschaftlern auch von der Klimaerwärmung begünstigt. Die Forscher rechnen in den kommenden Jahren mit noch mehr Sommertagen, an denen das Thermometer über 25 Grad steigt. Und auch die Tropennächte werden laut Metrologie häufiger.
Die Kehrseite der Medaille
Nicht immer bleibt die Dolce far niente-Stimmung ungetrübt, der Trend zu mehr Alltag im Freien bringt unerwünschte Nebenerscheinungen mit sich. Nicht alle, die sich unkompliziert verköstigen, entsorgen ihre Pizzaschachteln und Energydrink-Dosen in den Abfallkübeln. Der Unterhalt des öffentlichen Raums muss intensiviert werden.
Laut Medienberichten mehren sich in verschiedenen Schweizer Städten die Reklamationen betreffend Uringestank im öffentlichen Raum. Im Weiteren nerven sich die Bewohner über nächtlichen Lärm.
Innerstädtische Lebensqualität
Auch wenn die zunehmende Italianità in Schweizer Städten die Spannungen zwischen Ruhebedürftigen und Nachtschwärmern steigert, werten die Forscher den Trend zum südlichen Lebensstil als positiv. Er trage zu einer Aufwertung der Innenstädte bei, weil er den öffentlichen Bereich attraktiver mache und auch Quartiere belebe, in denen ansonsten nach Büroschluss kaum mehr Menschen anzutreffen sind.
Fotonachweis: PD; Adrian Zeller
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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