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Gastbeitrag

Man braucht kein Zertifikat, um frei zu sein

Alle sind verrückt, ausser jene, die aus Irrenanstalten entlassen wurden und ein Zertifikat ihrer geistigen Gesundheit vorweisen können. Dieser Logik folgt der Bundesrat in seiner am Mittwoch verkündeten Botschaft. Ein Gastbeitrag von Andrea Seaman.

Andrea Seaman am 21. Mai 2021

Darin gab er bekannt, dass Grossveranstaltungen, Clubs und Diskotheken in Zukunft nur durch Menschen mit einem Impfausweis gegen Covid-19, einem negativen Virustest oder einer nachgewiesenen Genesung besucht werden könnten. Sofern die eigene Freiheit nicht ärztlich zugelassen ist, wird man automatisch als Träger der gefürchteten Krankheit als Zweitklassebürger behandelt.

Dieser Verbannungsmechanismus gilt aber nicht für Restaurants, Läden, Schulen, Coiffeurs und dergleichen. Letztere weniger bevölkerten Bereiche sollen alle ohne Impfnachweis frei zugänglich sein. Hinter diesen Ausnahmen steckt nicht so sehr Wissenschaft wie die Einsicht, dass man gewisse Menschen nicht aus dem Supermarkt, der Beiz oder dem Einzelhandel ausschliessen kann, ohne dabei politische Autorität unwiederbringlich einzubüssen.

Die bedingte Unterbindung von Spass in Clubs und beim Fussballspiel kann man sich noch erlauben. Das dortige frivole Treiben und die schiere Menschenmasse an solchen Anlässen ersetzen ein gutes wissenschaftliches Argument, machen eine Kontrolle von oben durch das mögliche Chaos bei solchen Events plausibler. Viele, die puritanisch veranlagt sind, oder über Teilnehmerzahlen nicht hinausdenken können, werden durch diese Regeln zufriedengestellt. Zudem setzt der Bundesrat auf die weitverbreitete Haltung von «Was geht mich das an?» Diese Haltung ist eine vom Bundesrat geförderte unsolidarische Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber dem im Leben, auf das man zu verzichten vermag. Bundesrätlich ist das Ganze gesüsst durch die besänftigend wirkenden (weil lebenswichtigeren) Ausnahmen.

Doch genau so wenig wie man für die staatliche Anerkennung der eigenen geistigen Gesundheit einen Ausweis braucht, darf es für die Freiheit ein Zertifikat geben. Freiheit sollte allen Schweizer Bürgern automatisch innewohnen ohne obrigkeitliche Genehmigung. Dieser Impfnachweis dreht das Verhältnis von Staat und Bürger auf den Kopf. In der Vorstellung des Bundesrats ist die Freiheit des modernen menschlichen Lebens, wo man sich in schillernden Diskotheken austoben kann, nicht von Bürgern garantiert, sondern von der Regierung via medizinische Atteste als Privileg gefügiger Untertanen gewährt. Dass der Bundesrat hervorhebt, diese Impfpässe würden nur temporär bestehen (wie die Lockdowns im Frühjahr 2020?), bedeutet nur, dass diese Regierung unsere Rechte für aufhebbar erachtet: das Menetekel eines bleibenden Autoritarismus.

Falls diese Verbote von Zertifikatlosen an Grossveranstaltungen etc. umgesetzt werden, stellt sich bald ein Problem für den Bundesrat, sobald die Impfung für alle ohne Schwierigkeiten (Wartezeiten, Lieferungsprobleme etc.) zugänglich ist. Wenn der unbeschwerte Zugang zur Impfung jedem offensteht, der sie einnehmen möchte, dann wird der Schutz vor Corona plötzlich kein gesamtgesellschaftlicher Kraftaufwand mehr sein. Nein, dann wäre der Schutz vor Covid eine persönliche Entscheidung. Das ändert alles. Es würde bedeuten, dass derjenige, der Sicherheit vor dem Virus möchte, sich impfen lässt; während diejenigen, die diese Protektion nicht wollen, die Impfung unterlassen.

Wo Schutz vor Corona zur privaten Entscheidung wird, drängt sich die Frage auf: Wer kann eigentlich noch durch Covid-19 gefährdet werden, ausser einer Person, die das Risiko der Krankheit willentlich auf sich nimmt? Zum Schutz solcher mutigen Geister sind Geimpfte wie Ungeimpfte (also: alle) wohl nicht verpflichtet. Wer sich eine eigene Grube gräbt, soll nicht von anderen gehindert werden, selbst der Krankheit anheimzufallen.

Doch auch gegenwärtig gilt: Man braucht kein Zertifikat, um frei zu sein. Was man benötigt, um frei zu sein, ist ein Verbot in der Verfassung, welches Politikern untersagt, Freiheit einzuschränken. Aus diesem Grunde sollten wir den Bundesrat in seine Schranken weisen, ihm klarmachen, dass wir ihm verbieten, so mit uns Bürgern umzuspringen. Alle Bundesräte, als Vertreter des Volkes, dürfen sich nicht einbilden, Quelle unserer Rechte, des freien Tun und Lassens im Alltag zu sein. Die Verfassung der Schweiz müsste daher umgehend geändert werden, sodass die Regierung nicht mehr als Eigentümer unserer Freiheit agieren kann. Ansonsten prescht die Schweiz weiterhin der arbiträren Herrschaft zu.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Andrea Seaman

Andrea Seaman ist  Masterstudent in Philosophie und Geschichte an der Universität Fribourg. Er schreibt für das Onlinemagazin NovoArgumente und für Spiked Online und ist Vorstandsmitglied beim Diskussionsforums «Zurich Salon».

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