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Gastkommentar

«Massive Kompetenzverschiebung nach Brüssel» - Analyse zum Common Understanding mit der EU

Das «Common Understanding» (CU) soll Grundlage einer im Detail noch auszuhandelnden völkerrechtlichen Vereinbarung zwischen der Schweiz und der EU bilden. Ein Gastkommentar von Christoph Rohner.

Gastbeitrag «Die Ostschweiz» am 05. März 2024

Das «Common Understanding» postuliert einen sog. Paketansatz (Ziff. 1). Es sollen zusätzlich zu den bestehenden Abkommen neue Abkommen (Strom, Lebensmittelsicherheit, Gesundheit; Ziff. 2 - 4) hinzutreten, die Schweiz in Unionsprogrammen mitmachen können (u.a. Forschung; Ziff. 5), politische und technische Dialoge institutionalisiert (Ziff. 6 und 7) sowie institutionelle Bindungen geschaffen bzw. konkretisiert werden (Ziff. 8 – 12). Zudem sollen bestimmte umstrittene oder sonstwie offene Punkte, insbesondere im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit (z.B. Lohnschutz) (Ziff. 13-15), mit dem Landverkehr, mit Staatsbeihilfen, mit Beiträgen zur Kohäsion sowie zum Zweck eines künftigen Informationssystems geklärt (Ziff. 16 – 19) und für die Dauer der Verhandlungen, die bis Ende 2024 abgeschlossen sein sollen, ein «modus vivendi» - z.B. betreffend Teilnahme in Unionsprogrammen - vorgesehen werden (Ziff. 20).

Kern des ganzen Pakets sind die von der EU verlangten institutionellen Bindungen. Diese sollen nach dem Konzept des CU neu in jedem der bestehenden und künftigen Abkommen «in the fields related to the internal market in which Switzerland participates» (d.h. Marktzugangsabkommen; vgl. Ziff. 1 Lemma 1) und nicht wie im seinerzeitigen InstA übergreifend verankert werden (sektorieller Ansatz). - Essenz dieser institutionellen Fragen sind die dynamische Rechtsübernahme und die damit verbundenen Mechanismen zur Streitbeilegung. Davon handeln, in Verbindung mit Ziff. 1, die Ziff. 8 – 12:

• Ziff. 8 stipuliert die einheitliche Auslegung und Anwendung der Verträge nach den Regeln des internationalen öffentlichen Rechts, insbesondere überall dort, wo unionsrechtliche Bestimmungen involviert oder impliziert sind. Daraus folgt zwingend die Verpflichtung zu unionsrechts- und EuGH-konformer Auslegung der Verträge und – konsequenterweise – auch des nationalen Rechts. Es können also in jede binnenmarktrelevante Frage nationalen Rechts unionsrechtliche Elemente hineinspielen.

• Ziff. 9 umschreibt die «dynamische Rechtsübernahme». Sie soll nach «common understanding» Platz greifen «provided the exceptions already existing are safeguarded and a solution is agreed on the exceptions, principles and safeguards», d.h. sofern bestehende Ausnahmen gewahrt werden und darüber eine Einigung erzielt wird (Ziff. 9, Z. 4 f.). Solche Ausnahmen sollen der dynamischen Rechtsanpassung entzogen bleiben, und «safeguards» (Klarstellungen) in den gemischten Ausschüssen «in good faith» miterwogen werden.

Relevantes (neues) EU-Recht soll «as quickly as possible» in schweizerisches Recht überführt werden, unter Beachtung der schweizerischen verfassungsmässigen Verfahren (inkl. Referendum). Es werden keine Fristen umschrieben.

• Ziff. 10 äussert sich zur Streitbeilegung. Wenn keine Lösung im gemischten Ausschuss gefunden wird, sollen die Parteien («parties») ein Schiedsgericht anrufen können. Ist EU-Recht involviert/impliziert und für die Streitentscheidung relevant, ruft das Schiedsgericht den EuGH an, das diesen Aspekt abschliessend entscheidet. Das Schiedsgericht hat diesen Entscheid seinem Urteil zugrundezulegen.

Offen bleibt m.E.:

o Wer kann die Einsetzung eines Schiedsgerichts verlangen? Nur die EU und die Schweiz? Oder auch EU-Mitgliedstaaten?

o Wer hat das Recht, den EuGH anzurufen? Allein das Schiedsgericht? Das scheint aus dem Wortlaut des CU zu folgen. Oder auch eine beteiligte Partei, wenn das Schiedsgericht dies nicht tun will? Es ist kaum anzunehmen, dass eine Partei (insb. die EU) nicht eine verfahrensrechtliche Möglichkeit haben wird, den EU zu involvieren, wenn sie EU-Recht als einschlägig erachtet.

o Inwieweit greift im Streit um eine von der EU rechtlich angefochtene schweizerische oder eine von der EU neu verfügte Massnahme aufschiebende Wirkung Platz? Bis ein ad-hoc-Schiedsgericht konstituiert ist und entscheidet, dürfte Zeit vergehen.

• Aus Ziff. 9 und 10 folgt m.E. auch, dass Ausnahmen von dynamischer Rechtsübernahme und/oder der Nichteinbezug des EuGH nur in Frage kommt bei bestehenden Ausnahmen und wenn kein EU-Recht betroffen ist. Kann also neues EU-Recht bestehende Ausnahmen unterlaufen?

• Nach Ziff. 11 sollen die institutionellen Elemente für alle existierenden und künftigen Marktzugangsabkommen identisch sein. Vorbehalten sind technische Nuancen, die an der Substanz dieser Abkommen nichts ändern dürfen. Dies relativiert den sektoriellen Ansatz deutlich, zumal auch künftige Abkommen oder analoge Anpassungen bestehender Abkommen zumindest nicht ausgeschlossen werden.

• Laut Ziff. 12 Abs. 1 sind die bestehenden und künftigen Verträge « a coherent whole». Stellt das Schiedsgericht die Verletzung eines Abkommens durch eine Partei fest und ist die andere Partei der Auffassung, dass jene gegen das Urteil verstossen hat, kann sie «Ausgleichsmass¬nahmen» verhängen. Diese können nicht nur im Gebiet des aus EU-Sicht verletzten Abkommens, sondern im Bereich aller Marktzugangsabkommen greifen (Ziff. 12 Abs. 2). Die Verhältnismässigkeit solcher Massnahmen kann dem Schiedsgericht unterbreitet werden.

Nach dem Text dieser Ziffer scheinen «Ausgleichsmassnahmen» zwingend einen Verstoss gegen ein Schiedsgerichtsurteil vorauszusetzen, aber es fragt sich, wann ein «Verstoss» gegen ein solches Urteil vorliegt, wer hierüber entscheidet und ob sich die Praxis an diese Voraussetzung halten wird. Wie verhält es sich z.B., wenn (nach Auffassung der EU) die Schweiz übermässig lange für der Überführung neuen EU-Rechts in ihre Rechtsordnung braucht?

Die übrigen Ausführungen zu einzelnen Abkommen (Ziff. 2 – 5 und Ziff. 13 ff.) sind z.T. schwer verständlich formuliert, oft mit Bezugnahme auf irgendwelche Paragrafen einzelner EU-Richtlinien oder Rechtssetzungsakte, so etwa in Verbindung mit Ausnahmen und «safeguards» im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit (Ziff. 13). Beim Lohnschutz scheint es eine echte Ausnahme zu geben, wonach die Schweiz durch EU-Rechtsanpassungen nicht gebunden sein soll (Ziff. 14 unten). Echte Ausnahmen sind offenbar auch im Landverkehr (Ziff. 16) vorgesehen, soweit binnenschweizerische Fragen betroffen sind. Was als binnenschweizerisch gilt bzw. inwieweit auch hier sich EU-Recht auswirkt, hätte wohl das Schiedsgericht zu entscheiden (vgl. oben Ziff. 8 – 12).

Bei Subventionen («state aid»; Ziff. 17) scheint es einen gewissen Spielraum zu geben (in den auch wettbewerbsverzerrende Massnahmen der EU einzubeziehen seien). Es wird eine Verfahrensordnung konzipiert, wonach eine administrative schweizerische Behörde wettbewerbsverzerrende (schweizerische) Subventionsmassnahmen «with suspensive effect» (sc. betreffend die fragliche Massnahme) gerichtlich anfechten kann. Diese Regeln sollen in allen künftigen Marktzugangsabkommen gelten, z.B. betr. Elektrizität (und wohl auch bei den geltenden).

Die EU setzt Frist bis Ende 2024 für eine Einigung; explizit zudem bei den Kohäsionsbeiträgen, Ziff. 18, sowie bei den Unionsprogrammen (insb. Forschung, Ziff. 5), und sie stellt für diese Frist einen «modus vivendi» («as long as there is progress in the negotiations») in Aussicht (Ziff. 20), namentlich für Unionsprogramme (Ziff. 5), Elektrizität, Gesundheit, Landverkehr und Finanzmarkt. Künftige Kohäsionsbeiträge sollen «mutually agreed» sein. Sie sind ab dem auf Ende 2024 vorgesehenen Verhandlungsabschluss, d.h. schon vor Inkrafttreten des Rahmenvertrags, zu erhöhen (Ziff. 18).

Einige Schlussfolgerungen

Mit dem "Common Understanding" bekennt und verpflichtet sich die Schweiz zu einer gemeinsamen Sichtweise mit der EU und auf die von der EU angestrebte Finalität.

Die im CU bzw. im auszuhandelnden Rahmenvertrag vorgesehenen institutionellen Mechanismen (namentlich Ziff. 8 – 10) beziehen sich nicht nur auf die bestehenden und die im CU genannten künftigen Abkommen. Vielmehr werden gemäss Ziff. 1, 11 und 12 des CU alle künftigen Marktzugangsabkommen sich nach diesen Regeln zu richten haben; ihr Zweck liegt ja im Zugang der Schweiz zum EU-Markt.

In all diesen Marktzugangsabkommen werden sich EU-rechtliche Elemente finden, da es um den EU-Binnenmarkt geht. Sobald eine durch das neue bilaterale Vertragspaket legitimierte Partei die Verletzung von EU-Recht behauptet und dieses sich auf die Auslegung untergeordneten Rechts (auch qua unionsrechts- und EuGH-konformer Auslegung) ergebnisrelevant auswirken kann, steht die Zuständigkeit des EuGH im Raum. Soweit das Abkommen als rechtsetzend anzusehen ist, wird es nach dem in der Schweiz herrschenden monistischen System ohnehin uno actu auch zu Landesrecht.

Die dynamische Rechtsübernahme behält zwar Ausnahmen und Klarstellungen vor. Deren Tragweite und Beständigkeit ist aber unklar formuliert (vgl. Ziff. 9 und 10). Es ist – allenfalls vorbehältlich des Lohnschutzes und im Landverkehrsabkommen – nicht klar, ob nicht auch neues EU-Recht bestehende Ausnahmen übersteuern kann. All das kann bis zum Abschluss der Verhandlungen auch noch ändern. Die damit zusammenhängende Berufung auf «good faith» in Ziff. 9 CU ist vor dem Hintergrund des von der EU mehrfach praktizierten Drucks, beispielsweise in den Bereichen Börsenäquivalenz sowie Bildung und Forschung, zu würdigen. Der Bericht des Bundesrates zu den exploratorischen Gesprächen Schweiz - EU zur Stabilisierung und Weiterentwicklungen ihrer Beziehungen vom 15.12.2023 spricht hier wörtlich von «sachfremde[n] Verknüpfungen» (S. 6).

Soweit in Fragen des Marktzugangs keine Ausnahmen statuiert sind, wird die EU sich auf die institutionellen Regeln von Ziff. 8 ff. CU berufen können. Das Freihandelsabkommen, aber – jedenfalls wo Bezüge zum Marktzugang bestehen – auch die Unionsbürgerrichtlinie sind daher «Elefanten im Raum».

Bei den jeweils zu vereinbarenden, bereits vor Inkrafttreten des Rahmenabkommens zu erhöhenden Kohäsionsbeiträge (Ziff. 18) dürfte der stärkere Vertragspartner sagen, womit er sich (ohne Ausgleichsmassnahmen) zufriedengibt.

Der behauptete grosse Fortschritt des «Common Understanding» gegenüber dem InstA – die Verankerung der institutionellen Bindungen in den einzelnen (bestehenden und künftigen; Ziff. 1) Verträgen – ist illusorisch, weil diese institutionellen Bindungen und deren Konsequenzen vorbehältlich technischer Details einheitlich zu konzipieren sind (Ziff. 11). Dadurch wird der «sektorielle Ansatz» ausgehebelt. Das «Common Understanding» ist alter Wein in neuen Schläuchen.

Das «Common Understanding», zu dem sich ja der Bundesrat und de facto auch die Kantone bekennen, legt das zu erwartende Ergebnis der Verhandlungen und die damit verbundenen flächendeckenden und de facto irreversiblen Kompetenzverschiebungen weitestgehend fest, auch wenn noch Unklarheiten, offene Fragen und in Details auch gewisse Verhandlungsspielräume bestehen mögen. Ein darauf basierendes Abkommen führt zu einer massiven Kompetenzverschiebung nach Brüssel, die das verfassungsrechtliche Gefüge der Schweiz massiv verändern wird. Dass trotzdem nicht einmal die Kantone für ein Ständemehr eintreten, erstaunt. Das Argument, es sei zuerst das Verhandlungsergebnis abzuwarten, ist angesichts der Engmaschigkeit des «Common Understanding» nicht stichhaltig. Ein Verzicht auf das Ständemehr verstiesse bei einer so weitgehenden Kompetenzverschiebung gegen die Bundesverfassung, zumindest gegen deren Geist und die bisherige Praxis.

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Autor/in
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