In einem Gastbeitrag braucht Michael Bubendorf die Kategorie der mittelalterlichen Scholastik für heutige Tendenzen totalitären Denkens und spricht einer neuen Renaissance das Wort. Richtig ist das Gegenteil: Um diese Tendenzen zu überwinden, brauchen wir mehr Scholastik und weniger Renaissance.
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Hexenverbrennung, Ketzerverfolgung und Inquisition sind Schlagworte, die oft mit dem finsteren Mittelalter in Verbindung gebracht werden. Fakt ist aber, dass sie nicht ins Mittelalter gehören, sondern an den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, das heisst in die Zeit der Renaissance (15./16. Jh.).
Das Hochmittelalter ist die Epoche von ca. 1050-1250. Die Inquisition wurde im Spätmittelalter eingeführt und hielt sich bis in die frühe Neuzeit hinein (13.-18. Jh.), damit verbunden auch die Ketzerverfolgung. Zu den Hexenverfolgungen zitiere ich Wikipedia: «Die weit verbreitete Meinung, Hexenverfolgungen seien hauptsächlich eine Erscheinung des Mittelalters gewesen, ist ebenso falsch wie die Meinung, die grossen Wellen neuzeitlicher Hexenverfolgung seien vorrangig von der kirchlichen Inquisition angestrebt oder ausgeführt worden.» Der Höhepunkt der Hexenverfolgung in Europa ist zwischen 1550 und 1650 zu datieren, also lange nach dem Hochmittelalter.
Warum ist das bedeutsam? Weil all die totalitären Dinge, die Bubendorf mit der Scholastik verbindet, in Wirklichkeit mit dem Niedergang der Scholastik aufkamen. Die Scholastik hat ihnen gewehrt und auch heute wäre mehr Scholastik das vielleicht stärkste Mittel gegen totalitäres Denken.
Scholastik: Den Gegner beim stärksten Argument packen
Scholastik ist eine im Mittelalter entwickelte Methode der Beweisführung. Zu dieser Methode gehört, dass man seine Voraussetzungen (Prämissen) benennt, bevor man die Argumentationskraft einer Behauptung erörtert, indem man alle Argumente, die dafür und dagegen sprechen, zusammenträgt. Thomas von Aquin (1225-1274) war, anders als Bubendorf es darstellt, kein Grenzgänger der Spätscholastik, der zur Überwindung der Scholastik beitrug, sondern der bedeutendste Vertreter der Hochscholastik.
Thomas von Aquin war wohl nicht nur einer der grössten, sondern auch einer der fairsten Denker der Menschheitsgeschichte. Ein bekannter Fehler im Umgang mit den Schriften Thomas von Aquins besteht in Folgendem: Wenn man nur Auszüge von ihm liest, geschieht es leicht, dass man eine Meinung fälschlicherweise für seine Meinung hält, weil er sie so überzeugend darlegt und so starke Argumente dafür vorbringt, dass sie wie seine eigene Meinung klingt. Doch wenn man weiterliest stellt man fest, dass er anfängt, diese Meinung, die er von ihrer stärksten Seite entfaltet hat, argumentativ zu widerlegen.
Thomas von Aquin war ein Menschenfreund, der davon überzeugt war, dass man am meisten von seinen Gegnern lernt, wenn man sie bei ihren stärksten Argumenten packt, nicht bei ihren schwächsten Argumenten. Die mediale, politische und leider auch wissenschaftliche Diskussion funktioniert heute leider oft genau anders herum: Man möchte den Gegner ausser Kraft setzen, indem man ihn an seiner schwächsten Stelle schlägt und wenn man ihn blossgestellt hat, dann muss man sich mit den Stärken seiner Argumente gar nicht mehr befassen. Es geht dann mehr um die Rechthaberei als um den Erkenntnisgewinn. Wahrheitssuche wird dabei zum Kampf: Ich suche die schwächste Stelle zum KO-Schlag, anstatt die stärkste Stelle zu suchen, um zu lernen. Cancle Culture ist das Gegenteil von Scholastik.
Auf Corona übertragen: Die Leitmedien gehen nicht an die Corona-Demonstrationen, um sich die stärksten Argumente der Bürgerrechtler anzuhören, sondern um ein Flacherdler-Plakat zu fotografieren und dann zu melden, es seien Spinner und Schwurbler an der Demo, mit deren Meinungen man sich gar nicht befassen muss. Würden sie scholastisch an die Demo herangehen, würden sie über Michael Bubendorf berichten statt über das Flacherdlerplakat. Sie würden der stärksten, nicht der schwächsten Stimme der Demonstranten das Mikrophon hinhalten.
Zerfall der Scholastik: Schein statt Sein
Während die Scholastik in ihrer besten Form in sachlicher Strenge nach dem Sein fragte und persönliche Befindlichkeiten gegenüber dem Abwägen der Argumente aller Seiten beiseiteschob, kann man in der Renaissance neben all der Schönheit ihrer Kunst durchaus auch eine Verschiebung von Sein zum Schein sehen.
Als Symbol dafür kann der Neubau des Petersdoms in Rom dienen. Er war ein Prestigebau der Hochrenaissance für den Papst, die grössten Künstler der Renaissance wie Michelangelo und Raffael trugen zu seiner Pracht bei. Finanziert wurde er von gottesdienstlichen Kollekten (Peterspfennig) und von Ablässen (Sündenvergebung gegen Geld). Wir befinden uns nun zeitlich im 16. Jahrhundert, im Unterschied zum Hochmittelalter einer Zeit auch der Inquisition, Ketzerverfolgung und Hexenverbrennung.
Der Ablasshandel, mit dem dieser Prestigebau der Hochrenaissance finanziert wurde, hat einen kleinen, unbedeutenden Mönch auf den Plan gerufen: Martin Luther. Dem Ablassprediger Johann Tetzel, der predigte: «Sobald der Gülden im Becken klingt im huy die Seel in Himmel springt», schmetterte Martin Luther in seinen 95 Thesen entgegen, der Ablass sei einem freien Christenmenschen freigestellt, nicht geboten (47), wer nicht Geld im Überfluss habe, sei verpflichtet, für seinen Haushalt zu schauen und das Geld keineswegs für Ablässe zu vergeuden (46) und den Armen zu geben sei besser, als Ablässe zu kaufen (43).
Es war nicht die Kirche des Mittelalters und der Scholastik, die daraufhin mit der Verbrennung von Luthers Schriften loslegte (heute würde man Luther auf Youtube zensieren und ihn einen «umstrittenen Experten» nennen), sondern die Kirche der Renaissance mit ihren Prachtsbauten: Schein statt Sein. Die Machthaber von heute gebärden sich eher wie die Renaissancepäpste als wie die Scholastiker. Darum möchte ich nicht von der Scholastik in die Renaissance. Ich möchte wieder mehr Scholastik und weniger Renaissance: Sein statt Schein.
Dr. Benjamin Kilchör (*1984) ist evangelischer Theologe und Professor für Altes Testament an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel.
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