Diese Aufnahme, auf der Notre Dame im Hintergrund zu sehen ist, schoss Matthias Hutter eine Woche vor dem verheerenden Brand.
Der aus Appenzell stammende Matthias Hutter lebt seit Jahren in Paris. Aus nächster Nähe erlebt er derzeit mit, wie der Brand des Notre Dame die Stadt tief bewegt. Im Interview sagt er, wie die Menschen in Paris darauf reagieren - und wie sie sich die Zukunft vorstellen.
Wie und wann haben Sie erstmals etwas von den Ereignissen mitgekriegt?
Matthias Hutter: Im Zeitalter der Smartphones habe ich kurz nach 19 Uhr die erste Push-Nachricht auf mein Handy gekriegt. Da ich noch im Büro war, habe ich natürlich sofort einen Nachrichtensender konsultiert, da ich die erste Meldung kaum glauben konnte.
War schnell klar, dass der Brand ein grösseres Ausmass hat?
Die ersten Bilder waren noch nicht so spektakulär, und ich dachte, das kriegen die sicher schnell unter Kontrolle… Eswird ja auch regelmässig geübt. Trotzdem blieb ich gebannt davor, und nach rund 30 Minuten war klar, dass der Brandherd ausser Kontrolle geriet. Ich habe den Dachstuhl vor Jahren mal besichtigt, und es ist ein richtiger Wald aus Baumstämmen.
Touristen kennen Notre Dame, aber welchen Stellenwert hat sie eigentlich für die Einheimischen? Ist sie auch für diese etwas Besonderes?
Notre-Dame ist so etwas wie das Herz von Paris, geographisch befindet sich zum Beispiel der 0km- Punkt auf dem Parvis de Notre-Dame, von wo aus alle Distanzen zu anderen Städten angegeben werden, also auch das Zentrum von Frankreich. Wichtiger ist aber der historische Stellenwert, denn die île de la Cité war lange das geistlich-religiöse Machtzentrum, und gleich gegenüber das weltliche Pendant, das ehemalige Palais royal, heute Justizgebäude. Auch heute noch sagt man den berühmten Satz «Paris vaut bien une Messe» von Henri IV, bevor der Protestant in der Notre-Dame zum katholischen König wurde, Napoleon hat sich hier selbst gekrönt. Und nicht zuletzt kulturell: Victor Hugos Glöckner, etc. Nicht zuletzt ist sie auch das wohl älteste, gut sichtbare Zeugnis französischer Kunst und Kultur.
Welchen persönlichen Bezug haben Sie zu Notre Dame?
Als Wahlpariser habe ich natürlich eine emotionelle Bindung zur Stadt, in die ich mich verliebte, und daher auch zu allem. was ihr angetan wird: Bataclan, blinde Zerstörung durch die Gilets Jaunes, Verschandelung durch hässliche Bauten der 70er… Und zu dem, was sie erleiden muss, wie jetzt dieser Brand, das Sturmtief Lothar, der starke Verkehr.Paris ist für die meisten Bewohner fast eine lebende Person, von der man ehrfürchtig und respektvoll redet. Und so verhält es sich sich mit den meisten Bauwerken, die ein Teil davon sind. Und man kritisiert dann gerne jede Veränderung. Persönlich trifft es mich natürlich auch, da ich ja speziell für mein Innenarchitektur-Studium nach Paris gekommen bin und wir im Verlaufe der Kunstgeschichte und besonders der Architekturgeschichte das Gebäude mehrfach analysiert und innen und aussen besichtigt haben.
Welches Gesprächsthema dominiert derzeit in Paris? Geht es vor allem um die Ursachen des Brandes oder den Wiederaufbau?
Die Brandursache ist praktisch schon ein abgehaktes Thema, da es offiziell schon so bekannt gegeben wurde. Hingegen ist man bereits passioniert daran, den Wiederaufbau zu diskutieren. Woher so grosse Baumstämme nehmen? 200-jährige Eichen zu Tausenden opfern? Eine brandfeste Metallkonstruktion? Auch wird schon Geld versprochen, die zwei reichsten Familien übertrumpfen sich bereits gegenseitig. Auf alle Fälle war es das einzige Gesprächsthema heute. Die Leute sind aber auch zuversichtlich, man erinnerte sich an ähnliche Dramen wie die Kapell-Brücke, La Fenice in Venedig und so weiter.
Glauben Sie persönlich, dass der Tourismus in Paris unter dem Verlust leiden wird?
Nein, Paris hat sehr, sehr viel zu bieten, es ist also nicht, als ob plötzlich ein Schwarzes Loch in Paris bestehe würde. Im Gegenteil, der Ort wird vermehrt Schaulustige anziehen, auch Pariser werden wieder vermehrt einen Umweg machen, um das Voranschreiten der Instandsetzung zu verfolgen.
Wie lange wird das Ereignis die Menschen in Paris noch verfolgen?
Der Wappenspruch der Stadt gilt auch in schweren Stunden wie diesen. Er lautet: «Fluctuat, nec mergitur», also «sie schwankt, aber geht nicht unter.»
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.