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Droht ein Versorgungsnotstand?

Ostschweizer Ärzte gehen auf die Barrikaden

Die Ostschweizer Ärztegesellschaften haben die Vertragsanhänge zum Ärztetarif TARMED mit den regionalen Taxpunktwerten gekündigt. Das könnte gravierende Auswirkungen haben. Auch von einem Versorgungsnotstand wird gesprochen.

Marcel Baumgartner am 04. Juli 2018

Die Ostschweizer Ärztegesellschaften der Kantone Appenzell (Inner- und Ausserrhoden), Glarus, Graubünden Schaffhausen, St.Gallen und Thurgau haben die seit 2004 geltenden Taxpunktwert-Vertrags-Anhänge der kantonalen Anschlussverträge für den TARMED wegen zu tiefer Werte per Ende Jahr gekündigt. Das teilen sie in einer gemeinsamen Medienmitteilung mit.

Die darin vereinbarten Grundlagen für die Berechnung des Taxpunktwertes stammen aus einer Zeit, als das schweizweit geltende Tarifsystem TARMED für praktizierende Ärzte eingeführt wurde.

Vorübergehend tieferer Taxpunktwert

Aufgrund der damaligen Annahme, dass ein landesweit gleicher Taxpunktwert höhere Gesundheitskosten verursachen könnte, willigten die Ostschweizer Ärztegesellschaften 2003 ein, auf «Kostenneutralität» zu achten. Anstelle eines Taxpunktwertes von schweizweit einem Franken – wie ehemals vorgesehen – akzeptierten sie vorübergehend einen tieferen von 85 Rappen.

Tiefere Abgeltungen für gleiche Leistungen

«Gleiche medizinische Leistungen waren im Vergleich zu Kolleginnen und Kollegen anderer Kantone somit jährlich um +/- 10% tiefer. Die Ausgangslage hat sich zwischenzeitlich noch verschlechtert», schreiben die Gesellschaften.

«Erhalten die Ärztinnen und Ärzte im strukturschwachen Kanton Jura heute doch beispielsweise 97 Rappen, während die Ostschweizer Kolleginnen und Kollegen – multipliziert mit der gleichen TARMED-Tarifposition – nur 83 Rappen verrechnen dürfen.»

Tarifliche Ungerechtigkeit

Seit der Einführung des TARMED im Jahre 2004 herrschte folglich eine tarifliche Ungerechtigkeit, weil Ärzte in anderen Landesteilen für gleiche Leistungen wesentlich höhere Rechnungen stellen durften.

Verschiedene Tarifpositionen wurden durch Tarifeingriffe des Bundesrates sowie durch spezielle Revisionen zwischenzeitlich ebenfalls nach «unten» angepasst. Die Ostschweizer Ärzte fühlen sich dabei immer doppelt «bestraft».

Gleicher Lohn für gleiche Tätigkeit

Die Ostschweizer Ärztinnen und Ärzte empfinden es als stossend und ungerecht, dass gleiche ärztliche Tätigkeiten nicht überall gleich entschädigt werden.

Sie erachten es als unfair, dass die damals gewährte, vorübergehende Zurückhaltung, die grosse regionale Ersparnisse für die Versicherer und die Versicherten brachten, nie angegangen, ausgeglichen oder gar einmal belohnt wurden. Im Gegenteil, die Diskrepanz von bis zu 15% tieferen Entschädigungen für gleiche ärztliche Leistungen blieben über Jahre hinweg bestehen. «Und dies bei nachweislich höheren Personal- und Standortkosten sowie bei einer Kostensteigerung seit 2004 von mindestens 4% gemäss Landesindex der Konsumentenpreise», führen sie in der Medienmitteilung aus.

Anspruch auf gleichen Lohn

In Artikel 8 der Bundesverfassung steht, dass in der Schweiz «Mann und Frau …. Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit» hätten. Praktizierende Ärztinnen und Ärzte rechnen zwar überall in der Schweiz nach dem gleichen Tarifsystem (TARMED) ab, über die unterschiedlichen kantonalen oder regionalen Taxpunktwerte erhalten sie aber für gleiche medizinische Tätigkeiten sehr unterschiedliche «Löhne».

Versorgungs- und Nachwuchsprobleme

Diese «faktische» Diskriminierung prangern die Ostschweizer Ärzte an. Sie fordern die Aushandlung neuer, fairer und korrekter Taxpunktwerte. Dies insbesondere auch, um für die Zukunft nicht noch grössere medizinische Versorgungsprobleme zu erhalten. Sei es doch heute schon schwierig, den benötigten medizinischen Nachwuchs zu erhalten. Mit tieferen Löhnen würden noch mehr junge Ärztinnen und Ärzte in attraktivere Regionen abwandern. Da nütze auch die Einführung einer eigenen Ausbildungsstätte über den «Joint Medical Master» in St.Gallen wenig.

Vertragsloser Zustand zulasten der Patienten?

Die sechs kantonalen Ärztegesellschaften (Appenzell, Glarus, Graubünden Schaffhausen, St.Gallen und Thurgau) haben für ihre Kündigungen der Vertragsanhänge das Einverständnis ihrer Basis eingeholt und den Versicherern ihre Schreiben jüngst zugstellt. Die Kündigungen, die per 1.1.2019 wirksam werden, wurden mit dem Wunsch verbunden, in den nächsten Monaten faire und realistische Taxpunktwerte auszuhandeln. Als Reaktion darauf haben die Versicherer die gesamten regionalen Anschlussverträge inklusive aller Anhänge gekündigt, weshalb in der Ostschweiz für 2019 nun ein vertragsloser Zustand droht.

Versorgungsnotstand

«An der Ärzteschaft soll es nicht liegen, dass wegen Tarifstreitigkeiten medizinische Versorgungsengpässe entstehen», führen die Gesellschaften aus. Die Ostschweizer Ärztinnen und Ärzte erwarten aber, dass sie für ihre medizinischen Leistungen in den Praxen «faire und korrekte Abgeltungen» erhalten.

Die Ostschweiz habe eine ebenso gute medizinische Versorgung wie andere Regionen. «Insofern sind finanzielle Benachteiligungen, die grosse Probleme bezüglich der ärztlichen Versorgung und des Nachwuchses verursachen, nicht mehr haltbar. Eine markante Besserstellung der Ostschweizer Ärzteschaft ist deshalb für die nächsten Jahre Pflicht.»

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Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Co-Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

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