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Gedanken zu Freundlichkeit und Krieg

Psychiaterin Luise Reddemann: «Ich bitte Sie, werden Sie lauter und weisen Sie darauf hin, dass man ohne Krieg zu führen leben kann»

An der Aufführung der Bachkantate «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit» der Konzertreihe der J.S. Bach-Stiftung hat die Psychiaterin Luise Reddemann eine bewegende Rede gehalten, die wir hier im Wortlaut wiedergeben. Sie richtet sich dabei auch an die Schweiz.

Die Ostschweiz am 02. Dezember 2023

Reflexion von Luise Reddemann über Bachs Kantate «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit», Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) 106, anlässlich des Konzerts der J.S. Bach-Stiftung vom Freitag, 24.11. in der evangelischen Kirche Speicher:

Für die Einladung, hier zu Ihnen sprechen zu dürfen, bedanke ich mich herzlich.

Die heute aufgeführte Kantate begleitet mich seit Jahrzehnten. Ich empfinde sie als sehr tröstlich, gerade weil sie auch Schmerzliches anerkennt. Sie gilt als ein grosses Meisterwerk eines noch sehr jungen Mannes, denn Bach war gerade 22 Jahre alt, als er sie schrieb. Nicht zuletzt aufgrund seiner Biografie und des Verlustes beider Elternteile bis zum 10. Lebensjahr wusste der junge Bach um Trauer und Trostbedürfnisse.

Ich bin immer wieder begeistert von dieser Kantate und entzückt von der wunderschönen Blockflöten-Sonatina am Anfang sowie von dem gesungenen Text: «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. In ihm leben, weben und sind wir, solange er will. In ihm sterben wir zur rechten Zeit, wenn er will.»

Ich möchte mich hier auf diese Textpassage beziehen, noch gefolgt von «Ach Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden» aus Psalm 90, also eine uralte Weisheit.

Dieser junge Mann war auch weise

Ein junger Mann kann sagen, dass Gottes Zeit die allerbeste Zeit sei, und dass Gott die rechte Zeit für unser Sterben bestimme. Dieser junge Mann war auch weise. Allerdings akzeptierte man zu seiner Zeit allgemein mehr unsere Sterblichkeit, oder genauer gesagt hat man diese Tatsache akzeptiert und sie nicht so weit verdrängt wie nur möglich.

Nietzsche konnte empfehlen, dass gerade wegen der sicheren Aussicht auf den Tod jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein könnte. Ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn, der könnte uns zweifellos derzeit wieder guttun. Die Lebenskunst besteht vermutlich darin, dass wir uns in Akzeptanz üben dessen, was uns widerfährt.

Leider wollen wir uns lieber einbilden, wir hätten die Kontrolle so gut wie über alles. Von daher erlebe ich diese Aussage, dass Gottes Zeit die allerbeste Zeit sei, als eine nicht zu unterschätzende weise und für mich auch tröstliche Aussage. Denn wie oft nehmen wir uns und die Dinge, die uns betreffen, allzu ernst und allzu wichtig und sehen zu wenig das grosse Ganze.

«Wirf deine Angst in die Luft»

Was sagt mir die Kantate? Zunächst vermitteln mir Bachs Blockflöten etwas Spielerisches, Heiteres. So könnte es hier um eine Einladung gehen, das Leben als Ganzes zu entdecken, auch mit Schmerzlichem aufgrund der Einsicht in unsere Endlichkeit, wie Rose Ausländer es beschreibt:

«Noch bist du da / Wirf deine Angst / in die Luft /» (aus: Rose Ausländer: Gesammelte Werke, Bd. V: Ich höre das Herz des Oleanders, S.-Fischer-Verlag, Frankfurt a.M. 1995), eine Einladung, uns unserer Endlichkeit bewusst zu sein und dem Leben, das noch da ist, mit offenem Herzen zu begegnen.

Auch Bertolt Brecht (1954 /1990, S. 1022) hat sich indirekt zur Endlichkeit in seinem Gedicht «Vergnügungen» geäussert, das uns einladen kann, offen und dankbar zu sein für das Einfache in unserem Leben und es wertzuschätzen, wie zum Beispiel: «Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen / Das wiedergefundene alte Buch / Begeisterte Gesichter / … Alte Musik / Bequeme Schuhe / Begreifen / Neue Musik / Schreiben, Pflanzen / Reisen / Singen / Freundlich sein.»

Durch Heiterkeit die Schwere nehmen

Wir alle könnten in diesen Tagen eingeladen sein, durch Heiterkeit den schwierigen Themen ein wenig die Schwere zu nehmen, damit sie uns nicht erdrücken. Für vieles haben wir keine Lösungen, sondern müssen mit den schwierigen Fragen leben. Da könnte die Besinnung auf das Einfache und Freundliche unseres Lebens wenigstens zwischendurch guttun.

Was auch immer die Kantate «Gottes Zeit» für Einzelne bedeuten mag – ich möchte und kann das theologisch nicht deuten, dazu gibt es Berufenere –, so klingen immer auch Freude, Hoffnung, Zuversicht durch. Als Psychotherapeutin, die viele schwer belastete Menschen begleitet, ist mir der Blick auf das Ganze unseres Lebens besonders wichtig. Zum Ganzen unseres Lebens gehören Leid und Freude, und das vermittelt mir die Kantate.

Es wird ja hervorgehoben, dass es sich bei dieser Kantate um eine Trauerkantate handeln müsse. Man weiss es nicht ganz genau. Wenn das so ist, dann muss dieser junge Mann Sebastian geahnt haben, dass es einen Weg von der Trauer in die Zuversicht gibt.

Wir können nicht alles bestimmen

Und das sind vielleicht die wichtigsten Botschaften für uns: Wir können nicht alles bestimmen, schon gar nicht, wie viel Zeit auf Erden wir haben, und es gibt dennoch Grund zur Freude und Zuversicht. Und die Kantate kann eine Einladung sein, dass wir uns darauf mehr besinnen sollten, gerade wenn es schwierig wird. Und dankbar sein für das, was bereits an freundlichen Gaben des Lebens vorhanden ist, worauf Brechts Gedicht hinweist. Für mich ergänzen sich die Aussagen in der Kantate und in Brechts Gedicht.

Ich möchte hier noch kurz auf eine über 20 Jahre später komponierte Arie, nämlich «Wie will ich mich freuen, wie will ich mich laben» aus der Kantate «Wir müssen durch viel Trübsal», verweisen. In der Zeit zwischen diesen beiden Kantaten hat Bach viel Schmerzliches durchmachen müssen.

Wege zur Heiterkeit und Gelassenheit

Umso bemerkenswerter finde ich, dass er immer wieder Wege zur Heiterkeit und Gelassenheit findet. In der späteren Kantate 146 heisst es gegen Ende: «Wie will ich mich freuen, wie will ich mich laben, wenn alle vergängliche Trübsal vorbei! Da glänz ich wie Sterne und leuchte wie Sonne, da störet die himmlische selige Wonne kein Trauern, Heulen und Geschrei.»

In beiden Kantaten liegt die Lösung wie seinerzeit üblich mehr im Himmel, also in der anderen Dimension nach dem Tod. Ich möchte vorschlagen, dass wir uns erlauben, den Himmel zumindest ab und an auch schon hier erleben zu können, es liegt an uns, ob wir es uns gestatten, das wahrzunehmen.

Freundlichkeit mit uns selbst und anderen

Eine Lösung scheint mir, dass wir uns um Freundlichkeit bemühen. Freundlichkeit mit uns selbst, Freundlichkeit mit geliebten Menschen, aber auch mit fernen und letztlich Freundlichkeit mit der Schöpfung als ganzer, die sich in Dankbarkeit ausdrücken kann. In dem Satz «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit» klingt für mich diese Dankbarkeit an.

Leben wird einfacher, wenn wir achtsam die vielen kleinen und grösseren Dinge des Alltags, die uns vom Leben geschenkt werden und die keinesfalls selbstverständlich sind, bewusst dankbar wahrnehmen, statt sie für selbstverständlich zu halten. Kleine Momente der Freude und des Glücks können durch Dankbarkeit an Tiefe gewinnen.

Dankbarkeit als Mittel gegen Mangelorientierung

Dankbarkeit wird so ein hilfreiches Mittel gegen Mangelorientierung – nicht, indem man beschönigt, sondern, indem man genau hinsieht und das Leben als Ganzes mit freudigen neben den schwierigen Momenten sieht und akzeptiert. Dann kann zum Beispiel deutlich werden, dass es einem guttut, Menschen, die einem ein freundliches Lächeln schenken, dankbar zu sein und vielleicht sogar zurück zu lächeln.

Es wird uns viel Gutes von vielen Menschen und nichtmenschlichen Wesen gegeben. Das zu erfassen, kann das Leben reicher und wertvoller machen und das Herz öffnen und weiten. Vom Denken des ausschliesslichen Mangels wegzukommen und Fülle als positives Gut zu entdecken, hat vielen meiner Patientinnen und Patienten eine neue Sicht auf andere und auf das Leben ermöglicht. Wir können nicht ohne andere und anderes existieren; sich das dankbar bewusst zu machen, kann zur Quelle von Freude und liebevollen Gefühlen werden.

Ja zu unserer Endlichkeit

Es wäre allerdings beschönigend, in der Kantate nur zu hören, dass es um Freude geht. Aus meiner Sicht geht es um ein Ja zum Ganzen unseres Lebens. Also auch und gerade um ein Ja zu unserer Endlichkeit.

Wir können uns fragen, wie wir mit der Tatsache umgehen, dass es Leidvolles gibt, das wir nicht aus unserem Leben entfernen können. Und können wir uns in die Dinge «schicken»? Oder wollen wir uns lieber beschweren?

Sind wir bereit, das Leben/Gott oder die Wesen, denen wir Erfreuliches verdanken, zu «loben», im Sinn von freudiger Dankbarkeit? Sind wir bereit, wie Hilde Domin (1959/2022, S. 14) es einmal beschrieben hat, «‒ fast ohne Angst ‒ im Takt unseres Herzens, als seien wir beschützt, solange die Liebe nicht aussetzt» zu gehen? Für mich sind viele von Bachs Kantaten Werke, die mir helfen, immer wieder «fast ohne Angst» zu gehen, also tröstliche Verheissungen.

Exponentielle Zunahme der Kriegsbereitschaft

Gestatten Sie mir daher ein paar Gedanken zur aktuellen Situation, inspiriert als Psychoanalytikerin von einem meiner wichtigen Lehrer:

Die Bereitschaft zu kriegerischen Handlungen hat in den letzten Wochen fast exponentiell zugenommen. Es gibt einen Brief von Sigmund Freud an Albert Einstein aus dem Jahr 1932, wo Freud meint, es gebe wohl keine Möglichkeit, dass Menschen ohne Aggression auskommen würden. Allenfalls, so hoffte er, würde die Psychoanalyse zu mehr Freundlichkeit beitragen können (Einstein & Freud, 1933, S. 53 f.).

Heute plädiert die amerikanische Psychoanalytikerin Donna Orange (2011, S. 50, 59) wieder und wieder für Mitgefühl und bezieht sich dabei auf den Philosophen Emmanuel Lévinas (1991/1995, S. 138 f.), der sich oft auf den Satz «Nach Ihnen» – «Après vous» – bezog als eindrücklichen und einfachen Hinweis, dass wir dem und den anderen den Vortritt lassen sollten.

Leid als Konstante menschlichen Lebens

Wenn ich Bezug nehme auf Bachs frühe Kantate, so hoffe ich, dass sich immer mehr Menschen finden, die ihre Aggressionen und ihren Ärger nicht verleugnen, aber respektvollere Wege zu gehen versuchen, statt andere mit dem Tod zu bedrohen oder gar zu töten, also bereit sind, sich mehr auf das Gemeinsame unseres Menschseins zu konzentrieren, Leid als Konstante menschlichen Lebens anzunehmen und Heiterkeit, wie sie auch in der Kantate anklingt, nicht zu vergessen.

Sie haben es hier in der Schweiz geschafft, ohne Krieg und ohne Beteiligung an Kriegen seit Jahrhunderten zu leben. Ich bitte Sie, werden Sie lauter und weisen Sie darauf hin, dass man ohne Krieg zu führen leben kann. Was nicht bedeuten muss, dass man klein beigibt. Bitte tragen Sie das, was Sie über Friedfertigkeit und Kompromissbereitschaft wissen, nicht zuletzt, weil wir alle wissen können, dass es Grösseres gibt als Selbstbezogenheit, in die Welt. Dazu kann uns diese Kantate einladen.

Literatur

Brecht, Bertolt (1990): Vergnügungen. In: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 10: Gedichte. (3. unveränd. Nachdr.; S. 1022). Frankfurt: Suhrkamp (Original erschienen 1954).

Domin, Hilde (2022): Gleichgewicht. In: Hilde Domin, Sämtliche Gedichte (5., unveränd. Aufl.; S. 14). Frankfurt: Fischer (Original erschienen 1959).

Einstein, Albert & Freud, Sigmund (1933): Warum Krieg? Paris: Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit.

Lévinas, Emmanuel (1995): Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen (Reihe: Edition Akzente). München: Hanser (französisches Original erschienen 1991).

Orange, Donna M. (2011): The Suffering Stranger. Hermeneutics for Everyday Clinical Practice. New York: Routledge.

Luise Reddemann

Die deutsche Psychiaterin Luise Reddemann. (Bild: PD)

Zur Person

Luise Reddemann, geboren 1943, ist Fachärztin für Psychiatrie, für psychosomatische Medizin und Psychoanalytikerin. Bis Ende 2003 leitete sie eine psychosomatische Klinik. Sie hat eine Honorarprofessur für Psychotraumatologie und medizinische Psychologie an der Universität Klagenfurt. Seit Kindertagen beschäftigt sich Reddemann mit Johann Sebastian Bach. Bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2005 hielt sie eine Vorlesungsreihe zu einigen Kantaten von Bach unter der Überschrift «Vom Herzeleid zur Herzensfreud». In ihrem Buch «Überlebenskunst» spielen Bachs Werke eine Rolle im Kontext der Psychotherapie.

Hinweis: Dieser Text wird mit freundlicher Genehmigung der J.S. Bach-Stiftung publiziert.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Die Ostschweiz

«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund 300'000 Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG, ein Tochterunternehmen der Galledia Regionalmedien.

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