... ist nur noch der Corona-Tsunami. Die einzige Frage bleibt: Wie lässt sich diese Wortschöpfung 2021 noch toppen?
Eigentlich endet das aktuelle Jahr ja versöhnlich. Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass der achte Bundesrat - der Reproduktionswert alias R-Wert -, der die Weiteransteckungen wiedergeben soll, eine untaugliche Zahl ist und abgewählt gehört. Und sogar, wer dem achten Bundesrat weiter sein Vertrauen schenkt, muss zur Kenntnis nehmen, dass er falsch dargestellt wurde. Die Beizer wissen nun, dass man ihnen unnötige Ferien geschenkt hat. Dort, wo die Skigebiete weiter geschlossen sind, wird immerhin der Schnee geschützt, auch wenn es keinen Sinn macht. Kurz: Es hat sich einiges geklärt in den letzten Tagen des Jahres 2020.
Aber das kann es ja eigentlich nicht sein. Das Pflänzchen der Angst, das man über neun Monate lang so sorgfältig kultiviert hat, darf nicht einfach verkümmern. Es braucht Dünger. Zum Beispiel in der Form eines Mutantenvirus, das in der Schweiz bisher angeblich sieben Mal nachgewiesen wurde, das aber sicher, ohne jeden Zweifel, noch viel öfter vorhanden ist. Der Mutant ist der schwarze Ritter aus alten Kostümfilmen: Keiner weiss, wer er ist, was er will, aber es gibt ihn, und er ist schnell und supertödlich.
Irgendwie wollte die Mutation aber einfach nicht greifen. Sie hat die Angst nicht gesteigert. Vielleicht war diese Mutantensache vielen Leuten zu abstrakt. Man muss der Mutation ein Gesicht geben. Beziehungsweise einen Namen. Einen, den jeder versteht. Man muss die ohnehin schon tödliche Gefahr Corona mit einer anderen Gefahr kreuzen, die jedes Kind kennt.
Wir präsentieren (pardon, der «Blick» präsentiert»): Der Corona-Tsunami.
Das ist natürlich Kopfkino pur. Das Virus, das ja ohnehin gemäss Ankündigung im noch laufenden Jahr einen bedeutenden Teil der Bevölkerung hätte dahinraffen müssen, kommt nun als todbringende Welle daher. Ausgelöst eben vom Mutanten, in Kombination mit den Festtagen, an den wir bekanntlich alle Grossanlässe mit tausenden von Leuten organisiert haben, die sich stundenlang in den Armen lagen und an denen Wildfremde Küsse ausgetauscht haben.
Immerhin, lasst uns die guten Nachrichten suchen, sind die Corona-Mutationen (stimmt, es sind ja mehrere!) nicht mehr um 70 Prozent ansteckender als das Original, sondern nur noch 50 Prozent. Das zeigen die «Modelle» von Wissenschaftlern. Vermutlich dieselbe Modelle, gemäss derer die Intensivstationen seit Monaten überfüllt sind und die Übersterblichkeit in der Schweiz dramatisch ist. Also höchst zuverlässige Modelle.
Den Modellen gegenüber stehen nackte Zahlen wie der erwähnte R-Wert. Der zeigt inzwischen nach unten, aber dazu muss man wissen: Wenn die Reproduktionszahl nach oben zeigt, ist sie absolut korrekt, geht sie nach unten, dann stimmt etwas nicht, und man muss davon ausgehen, dass sie eigentlich höher liegt. Der R-Wert ist eine lustige Sache: Nur dann für voll zu nehmen, wenn er Besorgnis auslöst bei der Task Force des Bundesrats - und wertlos, wenn er nach unten geht.
Was macht man bei einem Tsunami? Völlig klar: Mehr Homeoffice und die Schulen nach den Ferien eine Woche länger geschlossen halten. Jede anständige Welle zuckt bei diesen Massnahmen sofort ängstlich zusammen und zieht sich zurück. Das heisst, dass dann so um den 18. Januar 2021 herum der R-Wert wieder tiefer liegen wird - was aber keine Rolle spielt, denn wenn er tiefer liegt, dann… siehe oben.
Was kommt eigentlich, wenn sich der Corona-Tsunami als plätscherndes Rinnsal erweist? Gibt es eine Steigerungsform, mit der «Blick» und Co. noch auftrumpfen können? Die Corona-Wasserstoffbombe zum Beispiel? Corona-Armageddon? Das Corona-Jüngstes-Gericht?
Wir sind optimistisch. An der Kreativität hat es den Medien noch nie gefehlt, wenn es um die Schaffung von Superlativen geht. Denn auch 2021 hat unsere Gesellschaft nur ein einziges Ziel. Nein, nicht der Sieg gegen das Coronavirus. Nein, nicht die Volksgesundheit. Nein, nicht der Schutz des Gesundheitssystems. Es geht nur um eines: Die Task Force muss weiter besorgt bleiben dürfen. Sonst fühlt sie sich nicht wohl.
PS: Die Wissenschaft in der Schweiz setzt neuerdings auf Geschichten statt auf Zahlen. Auf die Frage, ob die Corona-Mutanten die Jungen stärker treffen als die Originalvariante, heisst es, dass es keine klar gesicherten Erkenntnisse gebe, aber eine «anekdotische Evidenz». Also, vom Hörensagen her füllt nun bald die Jugend unsere Spitäler. Das Coronavirus hat auch unser altes Verständnis für Wissenschaft auf den Kopf gestellt.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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