Auf raffinierte Weise erschlich sich ein junger Mann das Vertrauen junger Burschen und ergatterte so Nacktbilder - und mehr. Was brachte ihn dazu?
Die Richter am Kreisgericht Toggenburg beurteilten letzte Woche einen Fall, bei dem es um Sexting und Sex mit einem Minderjährigen ging. Vier Jahre nachdem sich der Täter selbst angezeigt hatte, kam der Fall endlich vor Gericht und endete mit einem Schuldspruch, der über die Forderungen der Staatsanwaltschaft hinausging.
Das Wort «Sexting» ist letzte Woche während der ganzen Verhandlung vor dem Kreisgericht Toggenburg erstaunlicherweise nie gefallen. Und dabei ging es genau darum. Das aus dem angloamerikanischen Sprachraum stammende Kofferwort, das sich aus «Sex» und «Texting» – also «Sex» und «SMSlen» – zusammensetzt, hat als Wortschöpfung auch Einzug in die deutsche Sprache gefunden. Dabei schickt man sich mit dem Smartphone erotische Selbstaufnahmen; erfragt vom Partner zum Beispiel seinen Penis oder ihre Brüste zu sehen. Sexting ist besonders bei Teenagern und jungen Erwachsenen weit verbreiten. Prominentes Beispiel eines typischen Falls von Sexting war die Nackt-Selfie-Affäre rund um Geri Müller, Badens ehemaligen Stadtpräsidenten. Unter ebenbürtigen Partnern ist Sexting selbstverständlich nicht verboten. Müller wurde zum Verhängnis, die Bilder am Arbeitsplatz, also im Stadthaus, geschossen zu haben. Sexting ist rechtlich allerdings problematisch, wenn, wie im verhandelten Fall aus dem Toggenburg, der eine voll- und die anderen minderjährig sind.
Traumwelt «Job Adventure»
Der Angeklagte hatte 2014 seine Taten bei der Polizei selbst angezeigt und kam während dreier Tage in Untersuchungshaft. Zwischen Juni 2014 und August 2014 hat sich der damals 23-jährige Schweizer gegenüber mehreren Burschen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren auf Facebook mit verschiedenen gefälschten Profilen als Teenager-Mädchen ausgegeben. So motivierte er die Jungs, sich bei «Job Adventure» anzumelden. Den Jungen würden Aufgaben gestellt werden, die sie zu erfüllen hatten. Im Gegenzug winkten ihnen (in deren Vorstellung weibliche) Nacktbilder oder Geldbelohnungen. Nicht nur hat der Angeklagte die Mädchenprofile gefälscht, darüber hinaus trat er mit den Burschen auch als Mentor in Kontakt, der ihnen bei der Erfüllung der gestellten Aufgaben helfen wolle. So motivierte er die jungen Männer, sich beim Onanieren zu filmen oder Nacktbilder, teilweise mit klaren Anweisungen – beispielsweise wie sie sich einen Finger in den Anus steckten – von sich anzufertigen und sie ihm zu schicken.
«Ich erschuf alle diese Persönlichkeiten. Es war eine Traumwelt», sagte der Angeklagte dem Richter, der wissen wollte, mit welcher von all diesen Personen er sich denn identifiziert hätte; ob er „Anstifterin“ oder eher „Mentor“ war. «Ich war alle Charaktere», antwortete der Angeklagte, der seine ersten zwei Lebensjahre unter schweren Bedingungen in einem südamerikanischen Land verbrachte und dann zusammen mit seiner Schwester von einem Schweizer Paar adoptiert wurde. Alle Charaktere gleichzeitig zu sein, das sei Teil seiner diagnostizierten Persönlichkeitsstörung, gab er zu Protokoll. Aufgrund welcher Krankheit er denn eine IV-Rente beziehe, das konnte der Angeklagte nicht genau beantworten, es seien so viele. Borderline sei sicher eine, das wisse er. Heute meistert er seinen Alltag mit Hilfe einer (vor Gericht nicht anwesenden) Beiständin und der ambulanten psychiatrischen Betreuung. Seit seiner Selbstanzeige hat er sich zurückgezogen und ist nicht mehr straffällig geworden. „Ich schreibe meine Biographie, um zu verstehen, wer ich bin“, sagt er dem Richter auf die Frage, wie er seine Freizeit verbringe.
«Ich weiss nicht mehr» oder «Ich habe das verdrängt» waren die üblichen Antworten auf die Fragen der Richter. So funktioniere er halt: verdrängen und vergessen, das sei ebenfalls Teil seiner Persönlichkeitsstörung. Er betonte aber mehrmals, dass seine 2014 getätigten Aussagen alle wahr seien, und bestritt nachträglich keine der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen. Der Angeklagte machte während der Verhandlung meist einen gefassten Eindruck, hatte diesen leichten monotonen Unterton in der Stimme, der depressiven Menschen eigen ist. Immer wieder knetet er die Faust im Hosensack und einzig, als der Staatsanwalt zu seiner Rede ansetzte, verlangte der 27-Jährige einen kurzen Unterbruch, weil ihm schlecht geworden war.
Auch physische Kontakte
Mit mindestens einem der Burschen ist es auch wiederholt zu physischen sexuellen Handlungen zum Teil mit Nötigung gekommen. Dazu habe man sich jeweils übers Wochenende in der Wohnung des Angeklagten getroffen, Gras geraucht und viel Alkohol konsumiert. Er sei halt derjenige mit den Drogen und dem Bier gewesen, sagte der Angeklagte, darum wären die Jungs immer wieder zu ihm gekommen. Ob es denn auch zu sexuellen Kontakten mit anderen Knaben gekommen sei, wusste der Angeklagte nicht mehr. Ob er es tatsächlich nicht mehr wusste, sei dahingestellt. Tatsache ist aber, dass der Angeklagte überhaupt nicht verpflichtet ist, die Fragen des Richters zu beantworten. Und fast hätte man sich gewünscht, der Verteidiger hätte seinem Mandanten zu dieser Strategie geraten: Die Verweigerung der Aussagen. Im Übrigen verzichteten alle Geschädigten darauf, Teil dieses Strafverfahrens zu sein. Da sich der Angeklagte aber selbst angezeigt hatte, ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, diese Straftaten zu verfolgen.
Bedingte Gefängnisstrafe
Wegen den sexuellen Handlungen mit Kindern, dem Verleiten von Kindern zu sexuellen Handlungen, der sexuellen Nötigung, der Anstiftung zur Herstellung von Kinderpornografie und deren Erwerb sowie mehrfacher Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilte das Gericht den Angeklagten zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 22 Monaten bei der maximal möglichen Probezeit von fünf Jahren. Das Gericht ging dabei zwei Monate über die Forderungen der Staatsanwaltschaft hinaus. Strafmildernd wirkten sich aus, dass der Angeklagte sich selbst anzeigte, seither nicht mehr straffällig geworden ist und auch, dass das Verfahren ganze vier Jahre brauchte, bis es vor Gericht kam. Und obwohl das Gericht dem Angeklagten keine wirklich gute Prognose ausstellte, folgte es dem Antrag der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers und sprach die Strafe bedingt aus.
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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