Das Leben ist entweder ein riskantes Abenteuer oder eben nichts: Susann Pásztor und Juli Zeh rütteln mit ihren neuen Romanen feinfühlig auf. Zwei Buchvorstellungen von Andreas B. Müller.
War ich mit 16 längst der, der ich heute mit 61 bin?
Es gibt diese Bücher, die sich schon eines einzigen Satzes wegen zu lesen lohnen. Selten ist der plakativ auf den Umschlag gedruckt, sondern elegant eingewoben in die Geschichte. Bei Susann Pásztor sind diese, sagen wir Lebensweisheiten und Tiefgründigkeiten eingestreut wie Blue Notes, die aber bei mir neben einer melancholischen Bluesstimmung jeweils auch einen kleinen Adrenalinschub in Richtung eines vertieften Verständnisses des Lebens auslösen. Ein Satz (oder genauer: zwei Sätze) im neuen Roman «Die Geschichte von Kat und Easy» wie «Wir waren jung damals, aber wir waren trotzdem längst die, die wir heute sind. Das ist erschreckend und tröstlich zugleich, oder?»
Das ist erschreckend und tröstlich zugleich, nicht? Was meinen wir doch in jungen Jahren, alles tun und erreichen zu wollen und müssen, und was meinen wir doch in reiferen Jahren, alles verpasst und verpatzt zu haben. Oder letzteres eben genau nicht, weil es eben nur den gegangenen Weg gibt und es alle möglichen anderen Wege nur in der Möglichkeitsform gibt. «Trauere ich vielleicht etwas hinterher, das, hätte ich es nicht verloren, mich noch viel unglücklicher gemacht hätte? Könnte dieses Leben nicht sogar das bessere sein?», fragt Ich-wills-wissen. «Lieben sie, ohne zu hadern und zu klagen», fordert die Bloggerin Mockingbird ihre Leserin auf, während dem sich Kat und Easy, die sich hinter den Pseudonymen verstecken, nach einem halben Jahrhundert in einer kleinen Bruchbude in einer Bucht auf Kreta erneut begegnen. Und fügt hinzu, dass das Leben entweder ein riskantes Abenteuer oder eben nichts sei.
Die beiden Geschichtsstränge aus der Oberstufenzeit um 1973 in einem deutschen Kaff und in der Gegenwart auf der griechischen Insel handelnd, modellieren eine tiefe Freundschaft und auf Nicht-Ausgesprochenem fussende Distanz, bieten einen intimen Einblick in die Phantasien und Nöte von zwei Sechzehnjährigen, die sich in denselben Einundzwanzigjährigen verlieben, der tödlich verunfallt und die beiden Frauen jahrzehntelang miteinander sprachlos werden lässt. Susann Pásztor schält die beiden Hauptpersonen mit ihren so unterschiedlichen Liebes- und Lebenswegen sehr feinfühlig, fast zart, und gleichzeitig überaus differenziert und präzis aus ihren Umfeldern heraus und verwebt sie in einer, nein zwei, nein einer Geschichte, die mich bewegt und zum Nachdenken einlädt: War ich mit 16 längst der, der ich heute mit 61 bin? Und was heisst das für mich? Wunderbar!
_Susann Pásztor, «Die Geschichte von Kat und Easy», Kiepenheuer & Witsch _
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Das Herz öffnen für den Wesenskern
Und ich widerspreche mir nun gleich selbst: Manchmal finden sich die «grossen» Sätze bereits auf dem Buchrücken. «Vernichten und retten. Kooperieren und kämpfen. Zerstörung und Fürsorge. Es sind alles Aspekte derselben Beziehung, und das, denkt Dora, könnte man schon fast ein Zuhause nennen.»
Dora, die aus der Hauptstadt in ihr kleines, neues Daheim an Randlage von Nirgendwo geflohen ist, findet sich als Nachbarin des «Dorfnazis», wie sich Gote gleich selber vorstellt. Vollkommen in der Gegenwart handelt die Geschichte: Ihr Wegzug ohne Zurücklassen einer Adresse ihres neuen Wohnsitzes von ihrem immer fanatischer nach noch strengeren Corona-Massnahmen rufenden Freund (und hohe Klickraten generierenden Journalisten) wird begleitet von ihrer Kündigung als Werbetexterin aufgrund der zusammenbrechenden Umsätze. Gemeinsam mit ihrer Hündin Jochen-der-Rochen will sie sich entspannen im ehemaligen Dorfkindergarten, die Dornenwüste roden und so dem grassierenden Wahnsinn in der City entfliehen, hat aber die Rechnung ohne den Gärtner und dessen Tochter, also den Nachbarn, der einen Schlüssel zu ihrem Haus besitzt, gemacht.
«Und der Mensch heisst Mensch, weil er irrt und weil er kämpft, und weil er hofft und liebt, und weil er mitfühlt und vergibt, und weil er lacht und weil er lebt», ist zwar ein Text von Herbert Grönemeyer, aber passt für mich perfekt hierhin und zur Frage, ob ein Neonazi trotzdem einfach ein Mensch ist, und Hortensien mögen kann, was «eine Bedrohung des lebenswichtigen Irrtums sein kann, man könne das Gute und das Böse spielend leicht auseinanderhalten». Die Autorin Juli Zeh zerpflückt in ihrem neuen Roman «Über Menschen» das Schwarz-Weiss-Denken auf einmalige Weise und eröffnet mir eine Welt dahinter, die zwar für schlechte Taten nach wie vor keine Rechtfertigung bietet, aber den Menschen eben als vielschichtige, facettenreiche Natur wahrnimmt.
Ich lasse mir meine Bilder über «die da» (wer «die da» auch immer sind) aufweichen, mein Herz öffnen für den Wesenskern und zittere und trauere mit ihr über den schweren Verlauf der Krankheit «ihres» Dorfnazis, für den das Schwulenpaar, das die Strasse runter wohnt, ein kleines Dorffest organisiert. Und dazwischen immer wieder die anhängliche Tochter, für die sie mehr als eine Schulferien-Ersatzmutter wird, obwohl Dora eigentlich, eigentlich nur Ruhe und Stille wollte. Ein grossartiger Roman über Menschen und die Frage, worauf es im Leben eigentlich, eigentlich, eigentlich ankommt.
Juli Zeh – «Über Menschen», Luchterhand
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Andreas B. Müller (*1960) liebt gute Musik, Literatur und Wein (alles, was Seele hat), wirkt(e) unter weiterem als Konzert- und Festivalorganisator, Marketing- und Kommunikationsfachmann, rasender Reporter, Kurdirektor, Kellner, Coach und Supervisor, Projektentwickler und Ideeologe und zuletzt als Teamleiter Major Donor Fundraising für ein international tätiges Kinderhilfswerk. Er ist Projekt- und Programmleiter der Eventlocation INDUSTRIE36 in Rorschach (www.industrie36.events), Präsident des St. Galler Jazzvereins «gambrinus jazz plus» (www.gambrinus.ch) und bewegt mit seiner Wirkstatt Müller (www.wirkstattmueller.ch) Menschen und Projekte.
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