Erst in zwei Jahren wird die Schweiz erfahren, ob und wie sich das Coronajahr 2020 auf die Suizidrate auswirkt. Das hat bei einem Nationalrat Fragen ausgelöst. Die Antworten darauf liegen nun vor. Es zeigt sich: Auch in Bern sind nicht alle glücklich damit.
Einige harte Fakten wie ein stärkerer Andrang auf therapeutische Angebote oder Hilfs-Hotlines im Jahr 2020 und weiter sind ein klares Indiz dafür: Das Coronavirus beziehungsweise die Massnahmen dagegen belasten viele Menschen psychisch. Der Rückschluss liegt nahe, dass sich das auf die Zahl der Menschen auswirken könnte, die den Freitod wählen oder versuchen.
Genau wissen wird man das aber noch lange nicht. Der Berner SVP-Nationalrat Lars Guggisberg hat sich in der Fragestunde nach den psychischen Folgen der Massnahmen und den Auswirkungen auf die Suizidrate erkundigt, musste dann aber erfahren, dass die entsprechende Statistik erst im Dezember 2022 vorliegen wird; wir haben berichtet.
Diese Antwort liess ihm keine Ruhe, er gelangte an das zuständige Departement des Innern (EDI), um die Hintergründe dieser langen Wartezeit zu eruieren. Wie Guggisberg auf unsere Anfrage sagt, liegen ihm inzwischen die Antworten des EDI auf seine Fragen vor.
Dort wird erklärt, dass bis zur Publikation von Todesursachen jeweils knapp zwei Jahre vergehen. Die Quelle dieser Informationen sind die Ärzte in der Schweiz. Es gelte derzeit, bezogen auf 2020, über ein Mahnverfahren die ausstehenden ärztlichen Todesfallbescheinigungen einzufordern. Diese würden danach über Codierer in Bern eingelesen und nach den Regeln der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit den Codes für die verschiedenen Todesursachen eingelesen. Das wiederum erfordere oft Rückfragen bei den Ärzten. Eine statistische Auswertung könne erst erfolgen, wenn alle Sterbefälle so erfasst seien.
Ganz offenbar findet man auch beim Bundesamt für Statistik, dass dieser ganze Ablauf etwas gar viel Zeit beansprucht. Denn laut dem EDI ist derzeit ein Antrag an den Bundesrat in Vorbereitung. Die Forderung: Die Regierung solle zusätzliche Ressourcen für die Codierung und die Erstellung der Statistik bereitstellen. So solle die Todesursachenstatistik beschleunigt erstellt und veröffentlicht werden können - vor allem für die kritischen Jahre 2020 und 2021. Ob dem Antrag stattgegeben werden wird, ist derzeit aber noch offen.
«Die Antwort des EDI auf meine Frage sehe ich als Eingeständnis, dass es derzeit zu lange geht», sagt Lars Guggisberg, «die Aufstockung der Ressourcen für eine schnellere Bearbeitung ist aus meiner Sicht richtig und wichtig.» Aber er will bereits nachhaken, bevor das allenfalls passiert. Denn wie sich die Massnahmen auf die Psyche auswirken, sei eine entscheidende Frage. Guggisberg: «Es ist keine Frage, dass man die Risikogruppen schützen muss, aber gleichzeitig darf man mögliche Auswirkungen auf andere Teile der Bevölkerung nicht einfach ausblenden, sondern muss sie untersuchen.» Es dürfe nicht sein, dass beim Versuch, die Menschen vor dem Coronavirus zu schützen, anderweitige Erkrankungen ansteigen.
Deshalb werde er in den nächsten Tagen weitere Fragen zum Thema einreichen. Konkret ist der Parlamentarier überzeugt, dass sich Anhaltspunkte auch auf einfacherem Weg finden lassen. Was nämlich bereits früher vorliegen wird, schon in diesem März, ist die Statistik über die häusliche Gewalt. Diese wird in der jährlichen Kriminalstatistik ausgewiesen. Der SVP-Nationalrat geht davon aus, dass es auf diesem Weg auch möglich sein müsste, zumindest grobe Angaben über Suizide und Suizidversuche zu erhalten. «Ich werde mich nach den polizeilich registrierten Suizidversuchen erkundigen, die auch Rückschlüsse auf den psychischen Zustand zulassen», so Guggisberg.
Die lange Wartezeit auf Informationen über Ereignisse im Jahr 2020 stösst laut entsprechenden Rückmeldungen in den sozialen Medien auch vielen Bürgerinnen und Bürger auf. Dies vor allem, weil andererseits bei coronaspezifischen Kennzahlen schnell und in hohem Takt informiert wird. Der SVP-Nationalrat stellt fest: «Wenn wir erst in zwei Jahren Aufschluss darüber haben, wie sich die Massnahmen auf die Psyche der Bevölkerung ausgewirkt haben, fehlt uns jede Möglichkeit, rechtzeitig auf diese Folgen zu reagieren.»
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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