Das Historische und Völkerkundemuseum St. Gallen hat frischen Wind unter den Segeln: Anja Soldat (*1984) ist seit Anfang August Kuratorin für Ethnologie im HVM SG. Im Interview berichtet sie über ihre Arbeit und ihre Faszination für Afrika.
Der Beruf „Kuratorin“ ist vielleicht nicht vielen geläufig. Was machen Sie genau als Kuratorin im Arbeitsalltag?
Eine Kuratorin in einem Museum kümmert sich in erster Linie um die Sammlung, also die Objekte, die im Museum beheimatet sind. In der ethnologischen Abteilung sind dies ausschliesslich Objekte, die nicht aus der Schweiz oder Europa stammen, sondern aus Übersee: Afrika, Ozeanien, Nord- und Südamerika, Asien. Oft handelt es sich um Alltagsgegenstände wie Schalen und Krüge, aber auch um Tanzmasken, Statuen und um Schmuck. Also generell um Dinge, die wir oder unsere Vorfahren für schön oder informativ empfanden und deshalb sammelten und ins Museum brachten.
Den meisten Leuten ist bekannt, dass eine Kuratorin Ausstellungen konzipiert und organisiert. Dies ist aber nur ein (sehr schöner) Teil unserer täglichen Arbeit. Viel öfters geht es darum, die Objekte, die im Museumsbestand sind, wissenschaftlich aufzuarbeiten und das erlangte Wissen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, z.B. in der online-collection.
Wie genau funktioniert das: den Museumsbestand wissenschaftlich aufbereiten?
Viele Objekte in ethnologischen Sammlungen sind im 19. und frühen 20. Jahrhundert ins Museum gekommen und oft wissen wir heute nur wenig über ihre Herkunft und Bedeutung. Wir recherchieren also, woher die Objekte geographisch kommen, wie und durch wen sie ins Museum gelangt sind (Ankauf, Schenkung, Legat, etc.). Aber auch, wie sie in ihrer Heimat hergestellt und verwendet wurden, welche Bedeutung sie für ihre Erschaffer hatten und wie und warum sie eigentlich zu uns ins Museum kamen.
Dazu arbeiten wir heutzutage nicht nur mit Archivmaterialien, sondern auch sehr eng mit den Herkunftsländern zusammen. Wir suchen zum Beispiel Kooperationen mit Museen und Universitäten in den Herkunftsländern der Objekte und wir sprechen mit heutigen traditionellen Künstlern, um mehr über unsere eigene Sammlung zu erfahren und Ausstellungen zusammen organisieren zu können. Diese können dann bei uns und in den Herkunftsländern gezeigt werden.
Frau Soldat, wie sind Sie zu diesem spannenden Beruf gekommen? Hatten Sie schon immer ein Auge für interessante Objekte?
Tatsächlich war ich schon als Kind von Museen fasziniert und habe der Berufsberaterin im 4. Jahr an der Kantonsschule am Burggraben gesagt, ich wolle mal in einem Museum arbeiten oder in irgendeiner Form mit alten Objekten zu tun haben. Sie hat mir dann empfohlen, Ethnologie zu studieren. Ich bin ihr bis heute dankbar, dass sie mich bekräftigt hat, im Studium meiner Faszination nachzugehen und auf einen für viele Leute möglicherweise als „brotlos“ verstandenen Traumjob hinzuarbeiten.
Sie haben eine Faszination für Afrika. Erzählen Sie doch ein bisschen darüber.
Ich bin immer gerne gereist und generell faszinieren mich fremde Kulturen und Sprachen. Andere Weltvorstellungen und Kosmologien zu verstehen versuchen finde ich sehr spannend und bereichernd. Ich fand und finde es aber bis heute merkwürdig, dass wir über viele afrikanische Länder so wenig wissen und viel von unserem Wissen auf Klischees und Stereotypen beruht.
Und was begeistert Sie am meisten an diesem Kontinent und der Kultur?
Die Länder Afrikas sind sehr vielfältig und verschieden. Die Côte d’Ivoire hat zum Beispiel 66 indigene Landessprachen, also afrikanische Sprachen, die nichts mit Französisch zu tun haben. Das indigene Wissen wurde vielerorts mündlich überliefert und findet sich bis heute in Sprichwörtern, Redewendungen und in Erzählungen, die von den älteren Generationen an die Kinder weitergegeben werden. Ich glaube, wir können sehr viel voneinander lernen, wenn wir uns miteinander austauschen.
Stichwort Ethnologie – könnten Sie in einfachen Worten erklären, was dieses Fachgebiet genau beinhaltet?
Die Ethnologie ist im 19. Jahrhundert entstanden, zu einer Zeit, wo sich die Europäer:innen auf allen Kontinenten ausgebreitet haben. Die Menschen wollten sich selbst und die Welt verstehen lernen: Warum sind wir hier? Was macht einen Menschen aus? Was ist ein gutes Leben? Über das Sammeln von fremden Kultur- und Kunstobjekten aus fernen Ländern wollte man die eigene Geschichte und die Geschichte fremder Menschen verstehen lernen.
Und so sind dann die Museen entstanden?
Genau. Die Museumsmitarbeiter trugen Objekte aus aller Welt zusammen und verglichen sie miteinander. Im 20. Jahrhundert wurde die Ethnologie dann aber immer professioneller und statt auf Objekte konzentrierten sich die Wissenschaftler:innen immer mehr auf Sozialstrukturen, also auf die Organisation der Familie, des Dorfes, der Städte, der Landwirtschaft, etc. Vom Sammeln ging man über zu „teilnehmender Beobachtung“, man wohnte also über längere Zeit in einer fremden Gemeinschaft und machte sich Notizen zu deren Alltag und deren Lebensvorstellungen. Man begann, Fragebögen zu machen und Interviews zu führen. Heute können wir die ethnologischen Methoden auch bei uns einsetzen: Wir können zum Beispiel die Arbeitskultur in einer Schweizer Bank ethnologisch untersuchen und so neue Erkenntnisse zu unserer eigenen Lebenswelt erlangen.
Und nun zum Schluss: Welches ist das schönste und interessanteste Land, welches Sie schon bereisen durften?
Das ist eine sehr schwierige Frage, weil ich mich sehr schnell begeistern lasse und doch jedes Land, das ich bereist habe, schön und interessant fand!
Am meisten Zeit ausserhalb der Schweiz habe ich aber in der Côte d’Ivoire verbracht und ich vermisse dieses Land jeden Tag. Die Landschaft ist sehr vielfältig. Im Süden grenzt die Côte d’Ivoire ans Meer, je weiter nach Norden man fährt, wechselt die Landschaft von tropischen Wäldern zu Savanne. Die Menschen habe ich immer als sehr offen und freundlich erlebt. Ich habe unzählige Stunden mit spannenden und kritischen Diskussionen über Weltvorstellungen, Religion, Politik, Wissenschaft und Umwelt geführt. Das Leben findet mehrheitlich draussen statt und gegen Abend, wenn es etwas abkühlt, trifft man viele Menschen in Bars und Restaurants an. Entgegen der gängigen Vorstellung ist es nicht immer nur laut und hektisch - auch wenn viele Bars einen allabendlich mit Musik beschallen. Was mir wirklich gefallen hat, ist das entspannte und ruhige Beisammensein, das mir hier in der Schweiz im stressigen Alltag oft fehlt.
Lea Tuttlies (*2002) aus Amriswil studiert in Erfurt Internationale Beziehungen.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.