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Das Virus und wir

Traurig, aber wahr: Die Schweiz ist eben doch ein Land wie jedes andere

Ziemlich genau vor einem halben Jahr haben wir alle eine neue Regierung erhalten. Nicht demokratisch gewählt, es war eher ein Putsch. Covid-19 heisst die neue Ordnung, an der sich alles orientiert. Und wir schauen erstaunt zurück - und ziemlich verängstigt nach vorn.

Stefan Millius am 14. September 2020

Zu Beginn trat alles so ein, wie prognostiziert. Ein Killervirus sei unterwegs zu uns, werde unsere Gesellschaft umwälzen, unsere Krankenstationen überfüllen, die publizierten Todesanzeigen vervielfachen. Das Virus kam. Es existiert, keine Frage. Es steckt an, das ist auch die Aufgabe eines Virus. Und ihm zu Opfer fallen die Menschen, die zu wenig Widerstandskraft haben, bedingt durch ihr Alter, durch Vorerkrankungen. Davon gab es einige. Der Bund führte Buch, die Kantone auch, die Medien - in den Anfängen auch wir - rapportierten brav. Da steckten sich Menschen an, da starben Menschen. Kein Zweifel.

Rückblickend passierte damals nichts Ausserordentliches. In jedem heissen Sommer leeren sich die Betten von Altersheimen, Plätze werden frei. Einfach, weil es heiss ist. Das war selten eine Schlagzeile wert. Dieses mal aber brauchte man Schlagzeilen. Damals half ein Kunstgriff, die Panik künstlich am Leben zu erhalten. Es wurden stets nackte Zahlen gemeldet, sie wurden nie in Relation gesetzt. In Relation zu anderen Erkrankungen, zu anderen Statistiken, zu anderen Kurven. Der erste Coronatote im Kanton XY, der dritte im Kanton YZ: Das muss ja wohl reichen, um alarmiert zu sein. Wir waren alle ein bisschen hilflos, als es losging, und wir glaubten, wir könnten einen Beitrag leisten, indem wir weitermelden, was uns der Bund und die Kantone melden.

Im Rückblick waren wir brave Erfüllungsgehilfen von Leuten, die selbst keine Ahnung hatten, wie ihnen geschieht. Und die aus purer Überforderung immer ein bisschen mehr taten, als Sinn machte.

Man muss sich fragen, wer so ein verzweifeltes Interesse daran hatte, dass alles nach mehr klingt, als es ist, und wir kommen darauf zurück.

Man tat vieles, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Unter anderem würgte man grosse Teile der Volkswirtschaft ab. Man nahm hoffnungsvollen Jungunternehmern ihre Zukunft, erteilte Bühnenkünstlern ein faktisches Berufsverbot, unterband gesellschaftliche Aktivitäten. Ach was, gesellschaftliche Aktivitäten: Man unterband Nähe, schlicht und einfach. Das alles basierend auf nackten Zahlen. Ohne Relation. Parallel dazu erklärten uns zwar viele ausgewiesene, nüchterne Experten, dass das Virus gekommen ist, um zu bleiben und uns nichts anderes übrig bleibt, als uns damit zu arrangieren. Aber sie blieben ungehört. Irgendwo über allem schwebte die unausgesprochene Botschaft, dass sich die kleine Schweiz, inmitten von Europa und faktisch ohne Grenzen, vom Virus befreien kann. Indem wir nicht mehr zum Coiffeur gehen. Es ist eigentlich zu traurig, um lustig zu sein. Aber gleichzeitig hören wir uns verzweifelt lachen.

Während der Lockdownmassnahmen wurden die Meldungen über Erkrankte und Tote spärlicher. Logisch. Vermutlich hätten sie nicht besonders beeindruckend anders ausgesehen, und das wäre kontraproduktiv gewesen für die offizielle Botschaft. Erst als das Leben wieder halbwegs normal lief, schraubte sich das Bundesamt für Gesundheit wieder zur Höchstform hoch: Der Lockdown wurde aufgehoben, und was begann? Tägliche Wasserstandsmeldungen. Positive Tests, Todesopfer. Und nach wie vor: Nackte Zahlen, keine Relation. Die eine oder andere Zeitung erkannte, wie absurd das ist und begann, die Zahl der Erkrankungen ins Verhältnis mit den durchgeführten Tests zu setzen. Das Ergebnis sind Prozentwerte, die ebenfalls wenig Anhaltspunkte geben. Oder furchtbar harmlose. Durchleuchtet man sie, kommt man zum Schluss: Da passiert nicht sehr viel. Nur sagt das lustigerweise niemand.

Es mag morbid klingen, pardon, aber warum kommuniziert der Bund eigentlich nicht, wie viele Menschen täglich die Diagnose Krebs erhalten? Weil der nicht ansteckend ist? Das mag sein, aber wie viele Menschen, wie viele Familien erschüttert genau diese Diagnose Tag für Tag? Man hat den Eindruck, es gebe mittlerweile Todesdiagnosen der zweiten Klasse. Hast Du Corona, bist du wenigstens Teil einer Statistik. Hast du etwas anderes, darfst du ungehört sterben. Du interessierst keinen Menschen mehr. Celebrity dank Corona, immerhin das.

Derzeit hat man den Eindruck, der Bund habe nur zwischenzeitlich seine Massnahmen gelockert, um uns vor Augen zu führen, dass das gesellschaftliche Leben bald wieder geschlossen werden muss. Eine Art «Wir haben es euch doch gesagt» durchzieht die gesamte Kommunikation. Aus dem Nichts kam die Maskenpflicht im ÖV. Das ist diese Massnahme, die besagt, dass wir am Bohl in St.Gallen ohne Maske eng an eng auf den Bus warten können, aber eine Maske überziehen müssen, sobald wir in den weitgehend leeren Bus einsteigen. Gut, wieso auch nicht, das ist Staatsverwaltung vom Feinsten: Sinn machen muss es nicht. Hauptsache, wir haben verordnet. Wir ziehen die Maske über, nachdem wir zehn Minuten auf Tuchfühlung waren mit anderen unter dem schützenden Dach von Calatrava. Ja, es ist kein geschlossener Raum, gleichzeitig wahrt hier jeder den Abstand viel weniger als in Verkehrsmitteln (wo wir das meist wenn möglich auch ohne Corona tun). Das bewahrt uns also alle vor dem tödlichen Virus? So einfach ist das, ziemlich praktisch.

Und dann sind da die Kantone. Unser Föderalismus sollte dafür sorgen, dass sich jeder einzelne Kanton stolz gegenüber «Bern» behauptet. Passiert ist das Gegenteil. Hemmungslos überfordert von der Situation und bedacht darauf, gegenüber dem politischen Zentrum besser da zu stehen als andere, haben einige Kantone die Massnahmen sogar ausgeweitet. Maskenpflicht in Läden zum Beispiel. Da stolzieren Konsumenten brav durch die Regale mit der Maske vor dem Gesicht und stossen einen Einkaufswagen vor sich her, den vorher potenziell zehn Virenschleudern in Händen hatten. Die Maske, die geschätzte 90 Prozent ohnehin nicht korrekt anzuwenden wissen, als Symbol vor der allgegenwärtigen Gefahr: Das ist gelungen. Mit einem echten Schutz vor der Gefahr hat das nichts zu tun. Aber wir vergessen die Dauerbotschaft nicht. Gut gemacht, Marketingleute des Bundes (und von euch gibt es ja wirklich viele).

Man muss sich vor Augen führen, wie gut einzelne Kantone gerüstet sind für solche Aufgaben. Wir möchten niemanden vor den Kopf stossen, aber ein kleines Land wie die Schweiz, das in 26 eigenständige Einheiten aufgeteilt ist, muss die schonungslose Wahrheit hören: Da sind da und dort einfach blutige Laien am Werk. Natürlich nicht in ihrem angestammten Gebiet, aber garantiert überfordert von einer angeblichen globalen Katastrophe.

Kommen wir zurück auf die Frage, warum das alles geschieht. Gibt es eine weltumspannende Verschwörung? Daran glauben viele. Wir nicht. Ganz offen: Wir trauen es den Regierungen dieser Welt nicht einmal zu, dass sie eine solche auf die Reihe kriegen. Die Wahrheit ist vermutlich viel profaner: Wir haben keine Führung. Jedenfalls keine, die dem Namen gerecht wird. Wir haben in Bern stattdessen eine übermächtige Verwaltung. Leute, die den halben Tag damit beschäftigt sind, ihren Bleistift neben der Tastatur richtig anzuordnen, in einem sauberen 90-Grad-Winkel. Und die über sich selbst hinauswachsen, wenn es endlich etwas zu tun gibt. Und die dann das bisschen Macht, das ihnen ihre zufällige Wahl in ihr hochdotiertes Amt gegeben hat, auch nutzen wollen. Diese Menschen lieben Zahlen. Und so sitzen sie da und googeln Weltregionen und definieren, wo das Böse gerade sitzt und wo die Schweizer nicht hinreisen dürfen. Region XY hat einen Grenzwert überschritten, den der Kollege im Büro nebenan vorhin gerade definiert hat? Na, dann verbieten wir diese Region einfach!

Inzwischen hat die Schweiz, so ein Pech auch, in der Zählart dieser Verwalter viele dieser Regionen selbst überholt in Sachen Coronazahlen, und das macht es natürlich schwierig: Man kann einem Schweizer eben nicht verbieten, dort zu wohnen, wo er gerade wohnt. Also verbietet man ihm dennoch weiter, woanders hinzureisen, wo er statistisch gesehen vielleicht sogar sicherer wäre. Wir haben einen Grenzwert definiert, und natürlich gilt der nur für die anderen, nicht für uns. Wo kämen wir denn da hin? Wir sind die Schweiz, man kennt uns auf der ganzen Welt, und im schlimmsten Fall können wir mit diesem Covid-19 immer noch einen Kompromiss aushandeln, mit der EU funktioniert das ja meistens auch. Also, bleibt hier. Auch wenn ihr hier nicht sicherer seid.

Den Verwaltern kann man nicht mal einen Vorwurf machen. Sie wissen es nicht besser. Der Vorwurf geht an die eigentlich klugen Köpfe, die das alles widerstandslos mittragen. Allen voran die Journalisten. Die Weltwoche hält seit einigen Wochen dagegen, in lichten Momenten auch die NZZ, wir schon eine ganze Weile, aber: Das wars dann auch schon. Die anderen Verlage publizieren lieber Leservideos, in denen ein Zeitgenosse ohne Maske im Zug live erwischt wird. Es geht nicht mehr um die Frage, was Sinn macht, sondern nur noch um die Frage, wer sich unverschämterweise der Sinnlosigkeit entzieht.

Der Schweizer ist ein Mysterium. Er sieht rot, wenn der Nachbar den Abfallsack am falschen Tag an die Strasse stellt, aber er duldet es klaglos, wenn man ihm monatelang die Reise ins Nachbarland untersagt, ihn zu einer Maske mit höchst umstrittener Wirksamkeit knechtet und ihm jede Form der Zerstreuung verbietet. Und nirgends am Horizont regt sich eine politische Kraft, die sagt: Schluss damit. Mehr noch: Niemand baut eine neue politische Kraft mit dieser Botschaft auf. Obwohl sie offene Türen einrennen würde.

Vielleicht sind wir eben doch keine so besondere Nation, wie wir immer geglaubt haben.

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Stölzle /  Brányik
Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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