Walter Gartmann
So viele Kandidatinnen und Kandidaten für die Eidgenössischen Wahlen wie noch nie: In den Kantonen Thurgau und St.Gallen stellt insbesondere die «Mitte» alles Dagewesene in den Schatten. Mit elf bzw. sieben Listen geht die Partei auf Stimmenfang. Kann diese Strategie aufgehen?
Ganze 36 Listen erhalten die Stimmbürgerinnen und -bürger im Kanton Thurgau zugestellt. Das sind 13 mehr als bei den Nationalratswahlen im Jahr 2019. Um die sechs Thurgauer Nationalratssitze bewerben sich insgesamt 210 Personen, das sind 75 mehr als bei den eidgenössischen Wahlen im Herbst 2019.
Nicht anders sieht die Situation im Kanton St.Gallen aus. Bei der St.Galler Staatskanzlei sind 29 Listen für die Nationalratswahlen eingereicht worden: vier mehr als vor vier Jahren. Der Kanton St.Gallen hat Anspruch auf zwölf Sitze im Nationalrat. 311 Personen aus dem Kanton bewerben sich um diese. Das sind rund 22 Prozent mehr als bei den letzten Erneuerungswahlen im Jahr 2019.
Hauptsächlich verantwortlich für die Listenflut ist in beiden Kantonen «Die Mitte». Im Thurgau tritt sie mit elf, im Kanton St.Gallen mit sieben Listen an.
Masse statt Klasse?
Sie setzt damit die Strategie um, welche die Partei schweizweit verfolgt. «Die Mitte» möchte eine möglichst breite Auswahl an Kandidatinnen und Kandidaten bieten. Sie erhofft sich damit, dass jede einzelne Person Stimmen aus dem jeweiligen Umfeld bringt, dass sich Wähler eher angesprochen fühlen.
Wie das «Regionaljournal Ostschweiz» von SRF jüngst festgehalten hat, muss dieser Ansatz nicht zwingend aufgehen. Eine Auswertung von Nationalratswahlen der vergangenen 35 Jahre, die das Institut für Politikwissenschaften der Uni Bern exklusiv für SRF erstellt hat, habe gezeigt, dass mehr Kandidierende keinen signifikanten Effekt auf die Sitzgewinne haben.
Rüstzeug für spätere Wahlkämpfe
«Die Mitte» versucht es trotzdem. Wohl auch, um einzelne Kandidierende in Stellung zu bringen für weitere Wahlen – etwa Kantonsratswahlen.
Das bestätigt auch Sandra Stadler, Parteipräsidentin der «Mitte» Thurgau.
«Ein Wahlkampf ist immer auch eine persönliche Erfahrung. Wer einmal einen Wahlkampf miterlebt hat, ist gut gerüstet für einen späteren Wahlkampf. Bereits im April 2024 haben wir kantonale Wahlen und auch wieder Wahlen in den Gemeinden. Eine Nationalratskandidatur kann also auch der Start zu einer politischen Karriere sein.»
«Positiv für die Demokratie»
Ob so vieler Namen kann man jedoch schnell den Überblick verlieren. Es stellt sich die Frage, ob mit dieser Strategie den Wählerinnen und Wähler nicht zu viel zugemutet wird.
Stadler sieht hier kein Problem: «Wählerinnen und Wählern, die sich per se für die Politik interessieren, gelingt es auch mit vielen Listen den Überblick zu behalten, davon bin ich überzeugt.»
Aufklärung der Bevölkerung und politische Bildung
Für die Demokratie sei es ausserdem positiv, wenn viele Menschen kandidieren. Die Vielfalt an Personen würde auch viele Menschen ansprechen, die sonst nicht oft mit Politik in Kontakt kommen. «Um diese Menschen noch besser zu erreichen, sehe ich die Aufklärung der Bevölkerung über politische Prozesse und Politische Bildung an den Schulen als sinnvolle Wege», ergänzt Stadler.
SVP St.Gallen wählt anderen Weg
Für eine übersichtliche Auswahl hat sich unter anderem die SVP des Kantons St.Gallen entschieden. Vier Nationalratssitze hat die Partei aktuell – fünf sind das Ziel. Und dafür setzt man auf eine Liste mit zwölf Kandidierenden. SVP-Präsident Walter Gartmann sagt dazu:
«Jede Partei hat da wohl ihre eigenen Rezepte, und ich werde mir nicht anmassen, den anderen Parteien Tipps zu geben. Die SVP hat sich dazu entscheiden mit einer sehr guten und breit abgestützten Hauptliste den 5. Nationalratssitz zurückzugewinnen und Esther Friedli wieder in den Ständerat zu entsenden.» Die Bevölkerung könne so übersichtlich ihre bürgernahen und bodenständigen Vertreterinnen und Vertreter nach Bern wählen.
Die Motivation der Listenletzten
Und wie sehen das Kandidierende, die im Grunde genommen als «Listenfüller» beziehungsweise Stimmenfängerinnen fungieren? Was ist die Motivation, bei einem – in Bezug auf die eigenen Wahlchancen – aussichtslosen Unterfangen mitzuwirken?
Der Name von Lisa Vincenz – Tochter von Nationalrätin Susanne Vincenz – etwa findet sich auf dem letzten Platz der Frauen-Liste der FDP St.Gallen. Die Co-Präsidentin der St.Galler FDP-Frauen sagt dazu: «Wir verstehen unsere Frauenliste als Support für die Hauptliste der FDP und als Möglichkeit für die Kandidatinnen, Erfahrungen zu sammeln. Mit unserer Liste konnte vor vier Jahren der zweite Sitz verteidigt werden. Das ist auch dieses Mal unser klares Ziel.»
Den Listenplatz frei gewählt
Der Listenplatz selbst sei zudem nicht entscheidend. Auf der FDP-Hauptliste folgen nach den Bisherigen traditionell die Neukandidierenden nach Alphabet. «Hier erinnere ich gerne an die Wahl von Peter Weigelt, Andreas Zeller oder Susanne Vincenz-Stauffacher, welche allesamt auf den hinteren Listenplätzen waren.»
Die FDP Frauen listen die Kandidatinnen grundsätzlich nicht alphabetisch. «Aber unabhängig davon verstehe ich meine Rolle als Co-Präsidentin der FDP-Frauen primär darin, ‘meine’ Frauen zu fördern und habe mich deswegen auf den letzten Listenplatz setzen lassen», so Lisa Vincenz.
Doppelter Versand in Bern
Die aussergewöhnliche Flut an Wahllisten könnte übrigens nicht nur die Wählerschaft überfordern. In Bern beispielsweise könnte sie dazu führen, dass die insgesamt 39 Listen nicht mehr in einem Couvert Platz finden.
Das hat dort allerdings auch mit dem Umstand zu tun, dass Berner Stimmberechtigte - im Gegensatz zu anderen Kantonen – im offiziellen Versand neben den Wahlzetteln auch Parteiflyer zugeschickt bekommen. Auch das dürfte nicht für mehr Übersicht sorgen.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.