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Essay

Vom aufrechten Leben

In der Presse liest man viel von Solidarität. Man solle sich gegen Corona impfen lassen aus Solidarität. Ob uns die Impfserie aus den Pandemiemassnahmen oder in eine Massnahmenpandemie führt, werden wir noch sehen. Ein Essay von Marcel Emmenegger.

Marcel Emmenegger am 02. September 2021

Bildquelle: Sincerely Media

Letzten Sonntag habe ich mein Smartphone angeschaut. Ab und zu sollte man seine persönlichen Gegenstände anschauen, als sähe man sie zum ersten Mal. Das Telefon ist in einer durchsichtigen Hülle, es lag auf dem Display. In der Hülle guckte mein Organspenderausweis hervor. Wenn mir etwas zustösst, soll der Ausweis ja gefunden werden, darum ist er dort platziert.

«Ha!», dachte ich, eigentlich bin ich doch ziemlich solidarisch, wenn ich meine Organe nach den Ableben unter der Bevölkerung verteilt haben möchte. Offenbar sterben in der Schweiz pro Woche mehr als zwei Menschen, weil sie keine Organspende erhalten. Es heisst weiter, nur sehr wenige Patienten trügen einen Organspenderausweis auf sich, die Rede war von drei auf hundert. Die Spenderzahlen seien bei uns deswegen nur halb so hoch wie im angrenzenden Ausland.

Denn die meisten rechnen nicht damit, dass sie heute sterben. Es sind ja nicht alles Philosophen. Gottseidank, muss man sagen, denn sonst würde die Wirtschaft zusammenbrechen, wie Bernard Mandeville in seiner Bienenfabel von 1714 vorausgesagt hat:

«Den Ärzten, wurden sie nur reich,

War ihrer Kranken Zustand gleich.

Aufs Heilen gaben sie nicht viel,

Sie setzten sich vielmehr zum Ziel,

Durch eifriges Rezepteschreiben

Des Apothekers Freund zu bleiben.»

Der der aus der Nähe von Bordeaux stammende Humanist Michel de Montaigne schrieb Ende des 16. Jahrhunderts ein Essay mit dem Titel: «Philosophieren heisst sterben lernen». Den Satz übernimmt er vom römischen Allround-Talent Cicero, aber ursprünglich stammt die Idee wohl eher aus Platons Dialog «Phaidon», in dem es um die Hinrichtung des Philosophiehelden Sokrates geht. In seinem Essay springt Montaigne von einem Thema zum nächsten, so etwa wie ich hier. Er schrieb seinen Bewusstseinsstrom auf, würde William James ein paar hundert Jahre später sagen. Selbstverständlich hätte Montaigne damit niemals eine Abschlussprüfung an einer Uni in der heutigen Zeit bestanden. «Zu wirr», hätte ihm sein Studienbegleiter gesagt und: «Kommen Sie auf den Punkt!» oder «erstellen Sie einen klassischen Spannungsbogen!» Ich spreche leider aus Erfahrung.

Ich habe Montaigne meistens im Ruheabteil im Zug gelesen, als ich im Zürcher Seefeld gearbeitet und im Filou an der Schwertgasse in St. Gallen gewohnt habe. Das Einwohneramt ist übrigens einmal vorbeigekommen um abzuchecken, ob wirklich jemand im Filou wohnt. Dabei war mein Vormieter kein Geringerer als der Künstler Rolf Hauenstein. Ehrlich gesagt, ich vermisse das Filou schon manchmal.

Die gesamten drei Bände der Essays habe ich regelrecht verschlungen, als sie damals von Hans Stilett gerade neu übersetzt worden waren. Und natürlich habe ich nicht alles verstanden. Ich muss hier aber auch gestehen, dass ich den Montaigne im Stil von Marshall McLuhan durchgelesen habe: eine Seite habe ich einigermassen konzentriert gelesen, die andere Seite wiederum freigiebig mit meinen eigenen Gedanken ausgefüllt.

Aber was will uns Montaigne in seinem Essay über den Tod mitteilen? Eigentlich geht es ihm um die Bezwingung der eigenen Angst vor dem Tod. «Es ist ungewiss, ob der Tod uns erwartet; erwarten wir ihn überall!», schreibt Montaigne. «Rauben wir ihm gleich am Anfang seinen grössten Vorteil: Nehmen wir ihm seine Fremdheit, machen wir mit ihm Bekanntschaft, denken wir an nichts so oft wie an den Tod.»

Wenn man sich seiner Endlichkeit bewusst ist, nutzt man den Moment, lautet Montaignes These. Mir geht es jedenfalls mit meiner Familie so. Denn wer weiss schon, was in fünf Jahren ist? Die Gesellschaft und die Politik verändern sich gerade in eine ungesunde Richtung. In eine Richtung, die ich in einer aufgeklärten Gesellschaft niemals (mehr) für möglich gehalten hätte. Aber auch das kann sich wieder ändern – vielleicht. «Ja, ja, man sollte die Hoffnung nicht aufgeben, bla bla bla.» Sehr verehrte Damen und Herren, nichts geschieht von allein! Es gilt, die Zukunft in der Gegenwart mitzugestalten und zwar aktiv. Nur mit Klagen und Jammern allein wird gar nichts besser.

In diesem Zusammenhang finde ich diese drei Sätze von Montaigne in seinem Essay über das Sterben bemerkenswert: «Es ist ungewiss, wo der Tod uns erwartet – erwarten wir ihn überall. Das Vorbedenken des Todes ist das Vorbedenken der Freiheit. Wer das Sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt.»

In anderen Worten: Wer seine Hausaufgaben gemacht hat, den kann man nicht einfach vor sich hertreiben oder durch lautes Händeklatschen einschüchtern. Vorausgesetzt natürlich, man benutzt seinen eigenen Kopf zum Denken, denn sonst wird man umgehend zu Kanonenfutter verarbeitet. Ein ehemaliger Berufsoffizier hat mich darauf aufmerksam gemacht. Daher will ich Montaigne für einmal widersprechen: Die europäischen Felder sind voll von jungen Männern, die während dem Dienst für ihr Vaterland, oder was auch immer sie dafür hielten, gestorben sind. Ich verweise auf «Good-Bye to All That» des britischen Poeten Robert Graves, das den Alltag des Grabenkrieges im Ersten Weltkrieg schildert. «Strich drunter» heisst der deutsche Titel, «ihr könnt mich alle mal!» wäre wohl treffender gewesen.

Was ich aber immer etwas sonderbar fand war, dass die Leute, die nicht viel mit ihrem Leben anzufangen wissen, ewig leben wollen. Ich habe mal ein paar Leute kennengelernt, die waren so reich, dass sie dagegen Anti-Depressiva nehmen mussten. Sie hatten viel – und sie hatten trotzdem nichts. Ich erinnere mich, dass sie alles unternahmen, um nicht zu altern. Der Tod muss schrecklich für diese Leute sein, denke ich. «Manches lange Leben ist inhaltlos. Nutzt es, solange ihr es in den Händen habt», würde ihnen Montaigne entgegnen und: «Wusstet ihr [das Leben] nicht zu nutzten, brachte es euch keinen Gewinn, was kümmert euch dann sein Verlust, warum sollt ihr es dann behalten?»

Meine siebenjährige Tochter Amara und ich hörten Montagine‘s Essay «That to study Philosophy is to learn how to die» auf dem Weg ins Kloster Magdenau, das wir jeden Sonntag besuchen. Irgendjemand muss ja noch zur Messe gehen. So ein Kloster bietet einem zudem auch die Möglichkeit, für eine halbe Stunde in eine ganz andere Welt einzutauchen. Meine Tochter scheint bis anhin jedenfalls keinen Schaden daran zu nehmen, was vermutlich auch mit Schwester M. Veronika zu tun hat, mit der sie jeden Sonntag über alles Mögliche plaudert. Ich weiss nicht, ob Amara auf der Fahrt ins Kloster dem Montaigne zuhörte, oder einfach den Regentropfen auf der Scheibe nachschaute, aber sie fragte mich, als wir ankamen, ob man denn in eine spezielle Schule gehen müsse, um das Sterben zu lernen.

Ich sagte Amara einigermassen altersgerecht, dass das Leben der Menschen zeitlich limitiert ist und dass dies für alle Beteiligten wohl besser so sei, ich denke da besonders an unseren geschundenen Planeten. Ewig zu leben wäre auch für uns eine zu harte Strafe. Es geht aber natürlich darum, das Leben möglichst sinnvoll zu nutzen. Montaigne wagte sich in seinen gasconner Turm-Meditationen noch etwas weiter hinaus: «Wer die Menschen sterben lehrte, der würde sie leben lehren.»

Ich weiss grad nicht, wo der Montaigne das Zitat her hat, aber für meinen Geschmack sind im Laufe der Zeit zu viele Menschen sinnlos für die Interessen anderer gestorben. Zum aufrechten Leben gehört eben auch die Courage, im entscheidenden Moment «Nein, da mache ich nicht mehr mit!» zu sagen. Henry David Thoreau wäre eine formidable Adresse, das Thema weiter zu vertiefen. Sein Input hierzu heisst: «Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat.» Thoreau kritisiert nicht nur den Staat, sondern auch seine Bürgerinnen und Bürger, die zu bequem oder zu ignorant sind, um gegen eine herrschende Ungerechtigkeit aufzubegehren.

Danach hatten Amara und ich noch ein paar allgemeine Q&As auf dem Nachhauseweg, manchmal verstand ich ihre Fragen nicht auf Anhieb, weil wir ein paar alte UFO Songs mit Michael Schenker an der Flying-V Gitarre hörten:

«Fast as light our jets were burnin'

On the road a distant siren song

Hands upon my engines growin'

Vincent's deep throat breathin' out so strong

I can hold her, can you roll her

Ride her like there's no tomorrow

Siren's song sure is growin' stronger

Shadow reached a high note

And in the distance electric lights no longer»

Als das Lied zu Ende war, dachte ich so für mich: Kinder sind eigentlich geborene Philosophen, ihre ständigen Fragen geben den Eltern die einmalige Gelegenheit, mit ihren Kindern auf die Suche nach Antworten zu gehen und nicht einfach Fertigantworten zu liefern. Ich gehe unter dem Strich davon aus, dass ich von meiner Tochter mehr lerne als sie von mir. Besonders an regnerischen Sonntagen.

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Autor/in
Marcel Emmenegger

Marcel Emmenegger ist Sozialarbeiter und wohnt in Herisau.

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