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Der Mensch will Verlässlichkeit und Sicherheit. Die Dinge dauernd zu hinterfragen, zermürbt. Deshalb wollen wir uns auf behördliche Angaben blind abstützen können. Wenn diese aber selbst auf Mutmassungen beruhen, was bleibt dann? Ein Psychogramm der Anpassung in fünf Punkten.
Man sollte, man darf sich von lautstarken Kritikern auf Social Media oder gelegentlich auf der Strasse nicht beirren lassen: Nach wie vor dürfen der Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine klare Mehrheit zählen, die ihr in Sachen Corona den Rücken stärkt oder zumindest nichts dagegen sagt. Dahinter steckt nicht unbedingt echte Überzeugung. Oft ist es auch einfach der Wunsch, sich auf eine offizielle Linie verlassen zu können, weil alles andere anstrengend ist. Wir wollen glauben, dass «die da oben» recht haben, denn wenn sie falsch liegen, was bleibt dann noch?
Fünf Illusionen, die zu solchem Verhalten führen.
1. Die Regierungs-Illusion
Wir wählen die vereinigte Bundesversammlung direkt, diese wählt den Bundesrat. Das vermittelt uns bisweilen das Gefühl, der Bundesrat sei ja auch mehr oder weniger direkt von uns bestimmt worden. Was natürlich Unsinn ist. Schon im National- und Ständerat sitzen oft die mit dem dicksten Wahlbudget beziehungsweise der grössten Bekanntheit – oder beidem. Fast immer aus ihrer Mitte werden dann die Bundesräte gekürt, und da heisst das Kriterium nicht etwa: Die Wägsten und die Besten. Denn das Parlament ist gar nicht interessiert an einem starken Bundesrat, der ihm nur die Arbeit schwerer macht. Nicht selten ist ein Sitz in der Landesregierung die Belohnung für viele Jahre treue Parteiarbeit. Oder andere Fraktionen verhelfen einem ihrer Gegner zum Bundesratsposten, den sie für ungefährlich halten. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass der Bundesrat die beste Auslese ist. Eigentlich ziemlich das Gegenteil. Das spielt meistens keine so grosse Rolle. In einer Krise aber schon.
2. Die Wissenschafts-Illusion
Es wurde schon oft gesagt, und das zu Recht: DIE Wissenschaft gibt es nicht. Wissenschaft ist die Kunst der permanenten Auseinandersetzung, der laufenden Weiterentwicklung, des Dazulernens. Das geht nur unter Einbezug aller Stimmen, die von ihrem Wissen und ihrem Erfahrungsschatz dazu berechtigt sind. Genau das passiert seit Monaten nicht mehr. Heute werden wissenschaftliche Stimmen frühzeitig bereinigt. Diejenigen, die zur von der Regierung gewünschten Coronapolitik passen, stammen von «anerkannten Wissenschaftlern», wer andere Erkenntnisse hat, ist plötzlich ein «umstrittener Wissenschaftler», selbst wenn er bis dann unbestritten hervorragende Arbeit geleistet hat. In den Debatten findet sich aber nach wie vor immer der Verweis auf «die Wissenschaft, die sich einig ist.» Das ist sie nicht. Einig ist sich nur die Wissenschaftler-Auslese, die man uns prominent präsentiert. Weil aber nur sie Raum erhält, entsteht der Eindruck, es sei in Sachen Corona alles klar. Nichts ist klar.
3. Die Medien-Illusion
Schon lange vor Corona wurde am Stammtisch über «die von der Zeitung» geflucht, Journalisten geniessen allgemein keinen guten Ruf – und doch konsumiert ironischerweise fast jeder Medien und nimmt den grössten Teil der transportierten Meldungen zumindest unbewusst für bare Münze. Das umso mehr, wenn ein Ausweichen auf Alternativen kaum mehr möglich ist, weil alle Zeitungen dasselbe schreiben. Die wenigsten Leute können eine komplexe Statistik richtig lesen und bewerten, sie sind angewiesen auf die Verdichtung in Worten durch Schreibende. Wenn wir erfahren, dass in St.Moritz «das mutierte Coronavirus wütet», entsteht ein Bild. Dass im Untertitel die Rede von zwölf Menschen ist, die angeblich betroffen sind, macht keinen Unterschied, wir sehen ein Virus, das sich über ein ganzes Dorf hermacht. Es entsteht die Illusion, von einem wahren Sachverhalt gelesen zu haben, dabei war man Opfer einer Textredaktion, die nur eine Währung kennt: Klicks.
4. Die Behörden-Illusion
Auch wenn der Beamtenstatus abgeschafft ist und die Leute bei kommunalen, kantonalen und nationalen Verwaltungen keine halben Götter mehr sind und Bürger heute als «Kunden» bezeichnet werden: Die Schweiz ist ein durchaus behördengläubiges Volk. Wenn ein Bundesamt etwas verkündet, gehen wir davon aus, dass es hieb- und stichfest ist, immerhin machen die Leute dort nichts anderes. Tritt eine auch für Bundesämter völlig neue Situation ein wie das Coronavirus, so sind die Betreffenden aber zunächst einmal genau so ahnungslos wie alle anderen. Wir erinnern uns an die unzähligen Medienorientierungen, in denen sich Verantwortlich in Floskeln wie «Wir gehen davon aus» retteten, statt das ehrlichere «Wir wissen es einfach nicht» zu wählen. Auf der nächsten Ebene, den Medien, wurde aus der Annahme dann eine Tatsache, die den Lesern präsentiert wurde. Es gibt unzählige Beispiele für ungesicherte Annahmen, die danach zu blutrünstigen Schlagzeilen verarbeitet wurden. Unser Urvertrauen in Behörden ist aber so gross, dass es nicht mal zum Aufschrei kommt, wenn wir vom Bundesamt für Gesundheit blank angelogen werden – wie bei der völlig sinnfreien Reisequarantäne.
5. Die Moment-Illusion
Blicken wir zurück. Im letzten Frühling kam es zum ersten Lockdown und zu Schulschliessungen. Wir dachten, das sei ein ausserordentliches Ereignis, das sich mit einigen Wochen Disziplin regeln lassen würde. Im Sommer beruhigte sich die Lage, seit Herbst ist der Massnahmenzauber ausser Rand und Band. Verkauft wurde uns das stets als etwas, was wir jetzt, in diesem Moment, dringend tun müssten, damit danach wieder alles gut sei. Doch auf jeden dieser Momente folgte ein neuer Moment der angeblichen Dringlichkeit, eine neue Notwendigkeit, tausend Gründe, warum die Handlung im Moment A nicht ausreichend war und nun die Handlung für den Moment B folgen muss. Wir befinden uns in einem Taumel der dringlichen Momente. Viele Leute scheinen nach wie vor zu glauben, es gehe nur darum, den einen Moment zu überwinden. Aber wie nennt man das, wenn sich ein Moment an den anderen reiht? Wir haben uns längst eingegliedert in eine Kette der Massnahmen, die laufend um Glieder erweitert wird. Theoretisch müsste es allen auffallen, dass das so ist, aber die Massnahmenturbos gehen geschickt vor. Sie geben nicht zu, dass das, was sie anleiern, wirkungslos ist, sondern schüren stets neue Ängste. Das beste Beispiel dafür ist das mutierte Virus, das uns als überraschendes Element des Schreckens präsentiert wurde. Dabei weiss jeder, dass es das ist, was Viren nun einmal tun: Sie mutieren.
Ein Volk, das seiner Regierung blind vertraut, sich auf die von ihr eingesetzten Bundesämter verlässt, das die Auswahl der genehmen Wissenschaftler den Medien überlässt und keine Sekunde darüber nachdenkt, warum auf jeden angeblichen Lösungsschritt gleich wieder neue Massnahmen folgen, hat ein Problem. Krise? Können wir nicht. Und das gilt nicht nur für Regierung und Bundesämter. Das gilt bedauerlicherweise auch fürs Volk.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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