In der Schweiz tun Politiker gut daran, sich nicht als allzu belesen oder gar gebildet auszugeben. Politische Probleme werden hierzulande lieber «pragmatisch» gelöst als grundsätzlich.
Das kommt manchmal gut und schützt vor den leeren Begriffs-Haarspaltereien unserer nördlichen Nachbarn. Aber manchmal kommt so der helvetischen Politik der Kompass abhanden.
Das Jahr 2021 wird von uns allen Antworten zum Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union abverlangen. Es geht um den Rahmenvertrag, der in Brüssel und Bern schon so lange auf den Tischen liegt. Angeblich unterschriftsreif, aber keineswegs mehrheitsfähig – schlimmer noch: fast mit jedem Tag scheint seine Unterstützung zu schwinden. Ratlosigkeit herrscht. Mit Pragmatismus allein wird die Politik im Sumpf steckenbleiben. Es kommt der Moment, wo Position bezogen werden muss – und die wird man zu begründen haben. Nicht zuletzt vor dem Wähler und Stimmbürger.
Genau bei dieser politischen Bgrifflichkeit aber hapert es, nicht nur bei Politikern, sondern auch im politischen Journalismus. Als ich einst einem «meiner» Inland-Redaktoren beim Tagblatt die Lektüre von Max Webers Aufsatz «Politik als Beruf» empfahl, meinte er mit gequältem Gesichtsausdruck, das könne er leider nicht, er habe so viel zu arbeiten. Gerade er hätte es, wie viele seiner Kollegen, nötig gehabt, über das Verhältnis von Gesinnungs- und Verantwortungsethik nachzudenken. Gerade heute, wo moralisch aufgeladene, «gute» Gesinnung in der Politik obenauf schwimmt. Übrigens: Der fundamentale Aufsatz Max Webers, eines der Väter der politischen Soziologie, umfasst gerade einmal 55 Seiten…
Grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis der Schweiz zur EU finden sich im Buch, auf das ich schon vor einer Woche hingewiesen habe: «Unzeitgemäss» nennt sie Oliver Zimmer, der Oxford-Historiker, in seinem Buch «Wer hat Angst vor Tell?». Das sind sie nur insoweit, als sie dem aktuellen Mainstream nicht entsprechen – und sind deshalb womöglich zeitgemässer als die meisten aktuellen Eiertänze rund um den Rahmenvertrag.
Zimmer profitiert dabei vom Anschauungsunterricht, den ihm der epische Kampf um den Brexit seit Jahren bietet. Es ist auch, und vielleicht hauptsächlich, ein Kampf zwischen liberalen Eliten und einer Volksmehrheit, die sich 2016 überraschend für einen Austritt aus der EU und für mehr nationale Souveränität entschieden hatte. Ein Entscheid, den das Parlament und die erwähnten politischen Eliten bekanntlich mit fast allen Mitteln zu hintertreiben suchten.
Parallelen zur Schweiz sind unübersehbar, und Zimmer legt den Finger auf empfindliche Punkte, die der Mainstream der hiesigen Politiker und Kommentatoren gerne im holden Ungefähr belassen: Es geht um die Frage, ob wirklich alles, was die Brüsseler Bürokratie, was vor allem der Europäische Menschenrechtsgerichtshof entscheidet, von uns grundsätzlich als verbindlich zu akzeptieren sei. Unsere politischen Eliten in Bern, auf den Lehrstühlen und an den Redaktionspulten sehen das in ihrer grossen Mehrheit so. Aber sie fürchten gleichzeitig das Volk, das womöglich nicht genug Einsicht aufbringt, um die Weisheit der europäischen Zentrale und Gerichte zu erkennen. Eine der grössten Schreckensvisionen dieser europäischen Eliten ist denn auch die «Gefahr», dass ihre Entscheide auch anderswo in Europa dem Volk unterbreitet werden könnten.
Womit wir wieder bei Wilhelm Tell und dem Widerstand der tumben Eidgenossen gegen die modernen Verwaltungsstrukturen wären, welche die Habsburger ab dem 13. Jahrhundert durchzusetzen begannen. Die heutigen europäischen Zentralisten haben keine Hellebarde und auch keine Armbrust mehr zu befürchten. Ihnen flösst schon die Aussicht auf eine Volksabstimmung eiskalten Schrecken ein.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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