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Eine Verarbeitung

Was man alles darf – und was auf keinen Fall

Der Text eines Gastautors von «Die Ostschweiz» gibt zu reden. Das soll er auch. Im aktuellen Fall hat die Debatte aber seltsame Begleiterscheinungen ausgelöst. Ein Rückblick – und die Antwort auf die Frage, was wir daraus gelernt haben.

Stefan Millius am 24. Juli 2021

«Die Ostschweiz» hat vom ersten Tag an das System der Gastautoren eingeführt. Das ist in der Form, in der wir sie leben, eine Kategorie, die in der Medienlandschaft ziemlich neuartig ist. Gastautoren gehören nicht der Redaktion an, sie werden für ihre Texte auch nicht bezahlt. Im Prinzip sind sie «regelmässige Leserbriefschreiber». Sie erhalten eine Plattform für ihre Gedanken, die von der Redaktion nicht geteilt werden müssen. Voraussetzung für eine Gastautorenschaft ist eine Nähe zum gewählten Thema, sei das beruflich oder aufgrund der Lebenserfahrung. Und ja, man sollte auch schreiben können.

Der Bündner Rolf Bolt, Fachmann für Arbeitsintegration, ist Gastautor bei «Die Ostschweiz». Er hat bisher drei Beiträge beigesteuert, die sich alle um das Coronavirus beziehungsweise die Massnahmen dagegen drehen. Bolt vertritt die Ansicht, die Massnahmen seien unverhältnismässig, weil die Gefahr durch das Virus weniger gross sei als seit Monaten kolportiert. In seinem jüngsten Text «Verbrechen gegen die Menschheit» hat er sich gegen die offensive Impfkampagne gerichtet und diese als «Genozid» bezeichnet.

Rolf Bolt schreibt provozierend und hemdsärmelig. Es gibt Passagen im bewussten Text, die sehr weit gehen, für viele Leute zu weit, beispielsweise der gewählte Begriff «Genozid» oder wenn er einem Bundesrat ein psychopathisches Verhalten vorwirft. Normalerweise wäre damit auch für uns eine rote Linie überschritten. In gewöhnlichen Zeiten.

Nun ist es aber so, dass wir in Zeiten leben, in denen Politiker vorschlagen dürfen, ungeimpfte Menschen mit einem Sticker zu kennzeichnen. In Zeiten, in denen der oberste Arbeitgeber fordern darf, ungeimpfte Angestellte beim Essen in einem eigenen Raum zu separieren. In Zeiten, in denen die Idee aufkommt, ein eingeführtes Zertifikat, das zum Zutritt zu Veranstaltungen berechtigt, auszuweiten auf weitere Bereiche wie die Gastronomie und andere Teile des gesellschaftlichen Lebens.

Das alles sind Dinge, die einen erschauern lassen. Historische Vergleiche darf man bekanntlich nicht anstellen, aber es fällt angesichts der Offensichtlichkeit doch recht schwer. Eine Gruppe von Menschen sichtbar kennzeichnen? Wirklich?

In diesem Kontext ist der Text von Rolf Bolt zu sehen – und auch mancher aus unserer eigenen Feder. Oft ist Verzweiflung und Wut mit dabei. Weil das vor Kurzem noch Unaussprechliche nun plötzlich wie selbstverständlich hingenommen wird. Und gerade die Medien keinen Grund sehen, Einhalt zu gebieten. Der Text von Rolf Bolt hat Wellen geworfen. In erster Linie in Form von Telefonaten und E-Mails von Menschen, die sich bei ihm für die offenen Worten bedanken wollten.

Das «St.Galler Tagblatt» hat den Text des Gastautors thematisiert. Das darf die Zeitung natürlich. Schade nur, dass sie nicht mit dem gleichen Engagement auf die Abgründe eingeht, die sich in unserem Land sonst so eröffnen – siehe oben. Harte Vorwürfe gegen einen Bundesrat: Geht gar nicht. Ein Sticker für Ungeimpfte: Wo liegt das Problem?

Das Tagblatt hat den bewussten Artikel für die Samstagsausgabe eingeplant und unsere Redaktion am späten Freitagnachmittag mit Fragen beliefert – mit der Vorgabe einer Antwort bis 18 Uhr. Das haben wir getan, auch wenn das Vorgehen nicht statthaft ist. Es wäre angesichts dessen, dass wir eine Kleinstredaktion sind, gut möglich gewesen, dass niemand innerhalb von zwei Stunden antworten kann. Dann hätte es wohl geheissen, «Die Ostschweiz» beziehe keine Stellung.

Verwunderlich aber ist vor allem: Bereits am Donnerstag hat die Tagblatt-Redaktion mit ihrer Arbeit begonnen und systematisch Gastautoren, Werbe- und Medienpartner unserer Zeitung angeschrieben. Sie stellte dabei diese Fragen:

- Möchten Sie angesichts solcher Aussagen weiterhin auf der Autorenliste dieses Mediums fungieren?

- Ist angesichts solcher Aussagen eine Medienpartnerschaft mit der Ostschweiz noch tragbar und vertretbar?

Bei solchen Fragen geht es nicht darum, erhellende Antworten für einen journalistischen Text zu erhalten. Es geht darum, einen Mitbewerber zu schädigen, indem man dessen Partnern ein negatives Bild suggeriert, verbunden mit der kaum verschleierten Aufforderung, die Partnerschaft zu beenden. Das ist unschön und vermutlich auch juristisch anfechtbar. Dass das «Tagblatt» dann bis zum letztmöglichen Moment gewartet hat, um unsere Redaktion mit Fragen zu demselben Thema zu konfrontieren, obschon sie schon am Tag davor die Arbeit aufgenommen hat, ist kaum Zufall.

In einer ersten Version des Textes wurde der Schreibende als Chefredaktor von «Die Ostschweiz» als «bekennender Impfgegner» bezeichnet. Das wäre, hätten wir uns eine Kontrolle des Textes nicht ausbedungen, so stehen geblieben. Die Bezeichnung ist nicht zutreffend, der Schreibende ist kein Impfgegner – nur Gegner eines direkten oder indirekten Impfzwangs. Auch das war der Versuch, eine andere Zeitung in eine bestimmte Ecke zu stellen oder kurz: Zu diffamieren. Wir wären damit in guter Gesellschaft gewesen.

Wir würden den Text von Rolf Bolt aus heutiger Sicht vermutlich in Absprache mit dem Autor nicht mehr in diesem Wortlaut publizieren, sondern Änderungen vorschlagen. Dies ganz einfach, weil die persönliche Beschimpfung eines Bundesrats in der Tat grenzwertig, vor allem aber für den Inhalt des Textes nicht zwingend nötig war. Die laute Kritik im heutigen Tagblatt können wir dennoch nicht nachvollziehen, weil in den vergangenen Monaten Dinge geschehen sind, die weit über einen scharfen Zeitungstext hinausgehen – und wir uns nicht erinnern können, dass sich unsere Kritiker dagegen gestellt hätten.

Eine der Fragen des Tagblatt an uns, deren Antwort nicht im Artikel erschienen ist, lautete: «Was sagen Sie etwa zur Aussage, jede anständige Publikation veröffentliche sowas nicht?»

Unsere Antwort darauf lautete:

«Sie müssten zuerst definieren, was 'anständig' ist. Wenn es anständig ist, dass Menschen, denen ihre körperliche Unversehrtheit wichtig ist, in Zukunft nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen, dann bin ich sehr gerne unanständig und gebe unanständigen Menschen das Wort. Offenbar ist unanständig das neue Anständig.»

Das war und ist die Ausgangslage für unser Tun. In diesem Sinn werden wir gerne in Zukunft bei strittigen Formulierungen eine Extrarunde der Abwägung einschalten, uns aber nicht die Kategorie «Anstand» von einem Mitbewerber definieren lassen. Nicht, solange die Kennzeichnung von Menschen mit einem Sticker als völlig normal gelten darf.

PS: Auf den Versuch des «St.Galler Tagblatt», uns unsere Gastautoren abspenstig zu machen, haben wir bislang zwei direkte Reaktionen erhalten von Leuten, die nicht mehr als Gastautor geführt werden wollen. Die Liste der Autoren ist dreistellig.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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