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Autor René Oberholzer

Was Neil Young mit dem neusten Werk zu tun hat

Der Wiler Autor René Oberholzer hat kürzlich ein neues Buch mit 80 Gedichten veröffentlicht. Die Frage sei erlaubt: Wer schreibt heute noch Bücher?

Marcel Baumgartner am 04. März 2021

René Oberholzer, in Zeiten von Blogs, Insta-Storys und Co.: Wer schreibt da noch Bücher?

Das sind Menschen, die schon immer Leser/-innen von Büchern waren und hoffen, dass es diese auch in Zukunft noch geben wird. Das sind Menschen, die Texte irgendwelcher Art lieber haptisch aufnehmen wollen, die einen Ausgleich zur sonst schon sehr gross gewordenen Computer-, Handy- und Internetzeit suchen und die nicht immer den Strahlen der modernen Medien ausgesetzt sein wollen. Das sind Menschen, die Texte gerne auch einmal in die Natur mitnehmen und dort lesen wollen, und die hoffen, dass, falls der grosse Stromausfall einmal kommen sollte, in dem Texte verloren gehen könnten, es dann immer noch Bücher geben wird, die uns an frühere Zeiten mit ihren Geschichten erinnern werden. Darum sind Bibliotheken auch als Orte der Erinnerung an vergangene Zeiten noch immer enorm wichtig. Menschen, die Bücher schreiben, glauben zudem an die Individualität eines Kunstwerks, da ein Buch individueller ist als dasselbe Buch im Internet, zudem wollen sie ein Kunstwerk schaffen, das einen Meilenstein in ihrem Leben und in ihrer Biografie darstellt. Ein Buch zu schreiben, hat in ihrer persönlichen Biografie einen höheren Stellenwert, als Texte in einem Blog zu veröffentlichen, weil sie glauben, dass ein Buch besser und komprimierter geschrieben wurde als eine relativ schnell verfasste Insta-Story. Auch schreiben Menschen Bücher, um sie als Werbung für weitere Leseauftritte zu benutzen. Und nicht zuletzt wollen einige Menschen nach einer Lesung ein Buch mit nach Hause nehmen können, um das Gehörte oder Gesehene noch einmal nachwirken lassen zu können.

Ihr neues Werk «Sehnsucht. Mit Weitblick» enthält 80 Gedichte. Erhalten diese also demnach erst in einer gedruckten und gebundenen Form jene Wertigkeit, die Ihnen vorschwebt?

Ein Text oder im Speziellen ein Gedicht durchläuft mehrere Phasen, bis es seine volle Wertigkeit erlangt. Zuerst wird es einmal auf Papier oder in den Computer geschrieben in einer ersten Rohfassung. Dann wird es überarbeitet, was die Stringenz sowohl in Bezug auf Form und Inhalt betrifft. Später wird es 1-3 Kritikern vorgelegt, die ein Voting abgeben. Dann wiederum wird es in irgendeinem Forum im Internet veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt hat es dann schon eine sehr hohe Wertigkeit, weil das Gedicht dann nicht mehr verändert wird, ausser in Notfällen. In Buchform gelangt das Gedicht dann noch zur Veredelung jener Wertigkeit, die jedem Autor vorschwebt, wenn er mit seinen Texten an die Öffentlichkeit geht. Ein Gedicht hat in einer Literaturzeitschrift, einer Zeitung oder im Netz eine hohe Wertigkeit, aber erst in Buchform erreicht es für mich die höchste Wertigkeit.

Würden Sie sich als «Autor der alten Schule» bezeichnen?

Was das Schreiben von Texten in Bezug auf die Produktion angeht, gibt es keine Autoren der alten Schule mehr. Mittlerweile benutzen die meisten Autoren/-innen den Computer zum Entwerfen, Verarbeiten oder Designen von Texten. Was das Schreiben von Gedichten in Bezug auf Form und Inhalt angeht, würde ich mich auch nicht als Autor «der alten Schule» bezeichnen. So benutze ich keine Reime und keine durchrhythmisierten Zeilen oder Versmasse, sondern freie Rhythmen ohne Reime. Das ist aber auch nicht neu, da sind mir viele moderne Autor/-innen in früherer Zeit schon vorangegangen wie Bertold Brecht, Günter Eich, Reiner Kunze u.a. Ich würde mich in Bezug auf das Veröffentlichen von Texten auch nicht als Autor der «alten Schule» bezeichnen, da ich meine Texte in unterschiedlichen Formen und Medien verwerte. So sind meine Texte teilweise auch in akustischer Form im Netz zu finden oder ich performe meine Texte auf der Bühne in szenischen Lesungen.

Sind Sie ein disziplinierter Autor, der sich in einem bestimmten Rhythmus hinsetzt, und sich zwingt, zu schreiben?

Früher war es so, dass ich unregelmässig regelmässig geschrieben habe. Und wenn ich dann einmal zu lange nichts mehr geschrieben hatte, fühlte ich mich zunehmend unwohl, eine Art schlechtes Gewissen überkam mich, und ich begann wieder zu schreiben, da der Schreibprozess und das Verfertigen eines guten und gelungenen Textes eine unheimliche Befriedung gibt und die Lust auf mehr weckt. Früher musste ich mich nicht zwingen zu schreiben, aber ich musste mir zeitliche Freiräume und das Ambiente oder die Umgebung schaffen, um Texte zu schreiben. Ein Zwang war das nicht, aber eine bewusste Entscheidung, sich auf etwas Neues einzulassen. Und da das Schreiben sowieso ein steter Begleiter ist, auch wenn man nicht gerade schreibt, ist es manchmal einfacher, einen Text zu schreiben, wenn man alleine unterwegs ist. Themen gibt es überall und viele, und das Schreiben fällt leichter, wenn man Menschen hat, die einem auf dem Lebensweg parallel folgen und einem durch ihre Sätze und Aussagen mit neuen Schreibideen füttern. Aber die Ideen zum Schreiben von Texten können natürlich auch von ausserhalb der eigenen Erfahrungswelt stammen.

Durch Corona ist etwas Interessantes passiert. Dadurch, dass alle Menschen durch das Virus gezwungen waren, durch die fehlenden Angebote der Unterhaltungsindustrie mehr Zeit mit sich und zu Hause zu verbringen, stellte sich die Frage, was man mit dieser neu gewonnenen Zeit anfängt. Einige steckten ihre Energie in das Auffrischen ihrer Wohnung oder ihres Hauses, andere schauten vermehrt Fernsehen und liessen sich passiv berieseln. Da ich in dieser Zeit weder das eine noch das andere wollte, beschloss ich, regelmässig schreiben zu wollen wie jemand, der jeden Tag zur Arbeit geht. Natürlich habe ich einen Brotberuf, der mich zeitlich beansprucht, aber dennoch habe ich noch genügend Zeit nebst dem Beruf, um diese noch anders sinnvoll zu nutzen. Da die Corona-Zeit bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Reduktion des Unnützen und das Bedürfnis nach Steigerung des Sinnvollen freilegte, was bei mir auch passierte, begann ich mir vorzunehmen, jeden Tag mindestens einen Text zu schreiben, wobei es dabei nicht auf die Länge des Textes ankommt. Ich wollte dem Beispiel des Musikers Van Morrison folgen, der seiner kreativen Arbeit regelmässig nachgeht wie ein Handwerker, der am Morgen zur Arbeit erscheint und erst am Abend seinen Arbeitsplatz wieder verlässt. Man kann das Schaffen von Kreativität eben auch zur regelmässigen Absicht erklären. Dabei kommt am Schluss viel mittelmässiges Textmaterial heraus, aber auch sehr viel gutes.

René Oberholzer

Kann man den Schreibprozess bzw. die Kreativität erzwingen? Kann man durch Übung, Routine und die Integration verschiedener Verhaltensmuster besser werden?

Es gibt sicherlich Möglichkeiten, leichter in den Schreibprozesse zu kommen. Ich höre oft Musik beim Schreiben, wie beispielsweise ruhige Songs von Neil Young. Dabei höre ich die Musik nicht bewusst, sondern sie liefert mir eine Klangwolke, in die ich eintauche und in der ich mich wohlfühle. Dieses Wohlgefühl verleitet mich dazu, den Schreibprozess einfach einmal in Gang zu setzen. Dabei brauche ich einen Ausgangspunkt eines Satzes, den ich vor Kurzem gehört habe, oder ein Bild, das ich im Kopf habe, oder ich frage mich, welches Ereignis der letzten Tage hat mich besonders berührt oder beschäftigt, und das müssen nicht nur Ereignisse aus meinem Umfeld, sondern können auch Texte aus dem Internet sein. Und je mehr man das macht, desto selbstverständlicher und natürlicher wird das Ingangsetzen der Kreativität. Natürlich kenne ich auch verschiedene Möglichkeiten, aus welcher Perspektive oder in welchem Modus ich einen Text schreiben kann. Natürlich hilft mir dabei auch meine langjährige Arbeit in der Schreibwerkstatt Ohrenhöhe, mit der ich seit rund 30 Jahren neue Schreibimpulse suche und diese dann textlich umsetze. Solche Schreibimpulse und Schreibideen helfen mir beim Schreiben aber nur begrenzt, denn letztlich stehe ich bei jedem neuen Text wieder bei null, muss etwas auf das Papier oder in den PC bringen, das am Schluss des kreativen Prozesses mit irgendeiner Form von Seele erfüllt ist und im besten Fall möglichst viele Leser/-innen berühren oder in ihrem Leben abholen kann. Auch muss man vom eigenen Stoff berührt sein, um die eigenen Leser/-innen berühren zu können. Aber nicht nur.

Übung und Routine können also den Einstieg ins Verfassen von Texten erleichtern, Schreibtechniken, die man mittlerweile an Schreibschulen erlernen kann, ebenfalls, doch sie sind kein Garant dafür, dass ein Text gelingt oder beseelt ist. Und ob das Schreiben mit zunehmendem Alter besser wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Einerseits muss ich als Autor auch leben und nicht nur schreiben, ich muss auch ständig schauen, was das Erlebte mit mir macht. Wenn ich dann einen Text geschrieben habe, brauche ich 1-3 Kritiker, die mir auf meine Texte ein Feedback geben. Aber ob die Texte mit zunehmender Schreibtätigkeit besser werden, hängt auch mit der eigenen Lebenssituation zusammen. Wenn ich Ruhe und Musse habe und mit mir im Einklang bin, fällt mir das Schreiben leichter, als wenn das nicht der Fall ist. Wenn ich aber oft abgelenkt bin, werden die Texte sicherlich nicht besser.

Das Schöne am Schreiben ist ja, dass es trotz Routine und Techniken immer wieder unberechenbar ist. Und da rede ich jetzt vom fiktionalen Schreiben, in das auch Privates einfliessen kann und soll, aber nicht als Nabelschau, sondern als künstlerische Umsetzung. Wenn ich jeden Text in Bezug auf seine Wirkung und seinen Erfolg planen könnte, würde ich mir dieses Rezept zu eigen machen. Doch jedes Rezept verliert im Schreiben seine Wirkung, wenn man zu viel Technik und Absicht hinter einem Text vermutet. Die besten Texte entstehen sehr oft ohne grossen Plan, sie sind in einem Flow entstanden, und der Flow gepaart mit Seele oder Intuition machen dann den Reiz des Textes aus.

Corona zerstörte vieles, schaffte aber für viele Menschen auch etwas, nämlich Zeit. Wie haben Sie sie genutzt?

Zuerst einmal muss ich festhalten, dass ich glücklicherweise in dieser Corona-Krise meinem Brotberuf normal nachgehen konnte und finanziell nicht vom Schreiben abhängig war. Nebst meinem Brotberuf hatte ich natürlich auch mehr Zeit, die ich nicht mehr mit Treffen von Freunden oder mit Tanzen an den Wochenenden verbrachte. Zuerst dachte ich im ersten Lockdown, dass mir einiges fehlen würde, was vorher normal gewesen war. Es war aber nicht so. Meine Kontakte zu Freundinnen und Freunden reduzierten sich und verlagerten sich ins Internet. Alles ging relativ schnell. Ich jammerte auch nie über den Verlust von wirklicher Nähe, ich suchte einfach andere Möglichkeiten, um mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben oder zu kommen. Ich habe während der Corona-Zeit meinen Kontakt zu meiner Mutter intensiviert, was ich sehr schön finde und unsere Beziehung trotz Maske auf eine andere Ebene gebracht hat. Zudem habe ich nie gross gejammert über die Corona-Massnahmen, ich habe sie mitgetragen, und dort, wo ein Weniger entstanden ist, ein Mehr, eine Alternative gesucht. Und die Alternative war die Natur. Ich bin im Corona-Jahr sehr oft am Wandern und an der frischen Luft gewesen, habe Naturjuwelen in der nächsten Umgebung entdeckt, gesucht und schliesslich auch gefunden, um die ich sehr dankbar bin. Insofern ist mir die Schweiz als Heimat wieder ein Stück weit näher gerückt. Das Bewegen in der Natur ist aber nicht nur dazu da, Neues zu entdecken und sich gut zu fühlen, sondern auch, um Gedanken zu sortieren oder auf neue Gedanken, auf neue Schreibgedanken zu kommen. Die Natur gibt einem die Stille zurück, die einem manchmal fehlt, und in ihr entstehen manchmal auch sehr kreative Gedankengänge, die dann zu einem späteren Zeitpunkt in einen Text einfliessen können. Und natürlich habe ich wie viele andere auch mehr Zeit mit Kochen verbracht. Da wird man experimentierfreudiger, probiert neue Esskombinationen aus und gibt diese als Idee an andere weiter. Und natürlich habe ich zur Corona-Zeit, in der wir uns ja immer noch befinden, mehr Zeit mit Schreiben verbracht.

Für Schreibende ist aber generell immer auch ein wenig Corona-Zeit, in der sie sich in einer Art Quarantäne und Selbstisolation befinden. So gehört der Rückzug für mich als Autor zum kreativen Prozess und zum Selbstverständnis, insofern habe ich die Corona-Zeit nicht so sehr als abnormal erlebt. Allerdings war die Corona-Zeit für Autor/-innen schwer, die nebst dem künstlerischen Schaffen nicht noch einen Brotberuf hatten.

Zudem habe ich die freie Zeit genutzt, um mir zu überlegen, was ich wirklich brauche und was ich nicht mehr brauche, dadurch habe ich noch mehr freie Zeit bekommen für das, was ich wirklich gerne tue.

Wie viel «Corona» floss in das bereits erwähnte Werk «Sehnsucht. Mit Weitblick»?

Praktisch fast nichts ausser dem Gedicht «Geschlossene Grenzen», das ein Liebespaar aus zwei Ländern an der Grenze während des ersten Lockdowns zum Thema hat. Dieses Paar durfte sich jeweils nur am Zoll unter Aufsicht treffen und das Gedicht beruht auf einer wahren Begebenheit. Ich habe das Gedicht dann noch mit einer Songzeile von John Lennons «Imagine» kontrastiert. Ansonsten werden mehr Corona-Gedichte im nächsten Gedichtband, der im Frühjahr erscheinen soll, vertreten sein. Aber einmal abgesehen von der Corona-Thematik, die uns alle mehr oder weniger auf uns selbst zurückgeworfen hat, ist das Thema der Isolation, des Rückzugs, des Alleinseins oder im schlimmsten Fall der Einsamkeit auch immer wieder ein literarisches Thema, Corona hin oder her. Der Titel zu meinem Gedichtband stand eigentlich schon vor Corona fest und ist auf einer Reise nach Ulm entstanden, wo ich den Silvester 2015/2016 verbracht hatte. Dass der Buchtitel durch Corona im Nachhinein zu ungeahnter Aktualität kommen würde, war ein interessanter Begleiteffekt beim Zusammenstellen des Gedichtbandes.

Oberholzer

Für welche Leserschaft eignet sich das Buch?

Der Gedichtband ist sicherlich an ein erwachsenes Publikum gerichtet. Da geht es um Beziehungsgeschichten, die teilweise einen roten, emotionalen Faden haben, dann aber auch in einzelnen Texten intellektuell durch Einschübe oder ironische oder sarkastische Passagen gebrochen werden. Die Personen, die mich zu meinen Texten inspirieren, sind auch ausschliesslich erwachsene Personen, die sich sehnen, die sich lieben, die Glück empfinden, aber auch scheitern. Meine Gedichte richten sich auch an Leser/-innen, die normalerweise ein Vorurteil gegenüber Gedichten haben. So glauben viele Leser/-innen, dass Gedichte sich reimen würden oder dass sie schwer verständlich oder hermetisch seien. Das trifft bei meinen Gedichten auf beides nicht zu, obwohl viele Texte nach dem Lesen nicht einfach zu Ende gedacht sind. Bei einigen Texten schwingt ein Nachgeschmack, ein Nachgefühl oder ein Nachgedanke mit. Wer Lust hat, diesen Nachgeschmack, der nicht immer nur gut mundet, zuzulassen, gehört zu meiner Leserschaft. Da ich weiss, dass ein Grossteil der belletristischen Bücher wie auch der Gedichtbände von Frauen gelesen werden, lade ich auch viele Männer zum Lesen meiner Gedichte ein. In meinen Texten geht es auch um Männer, es geht auch um Geschichten, es geht auch um wahre Gefühle und auch um Humor und Wortwitz.

Und wo sollte ich es lesen?

Es gibt keinen Ort, wo man meinen Gedichtband nicht lesen könnte. Es gibt Menschen, die lesen Gedichte auf der Toilette, haben dort auch einen Gedichtband parkiert und lesen bei jedem Stuhlgang immer eine neue Seite und lassen diese dann auf sich wirken. Man kann meine Gedichte aber auch vor dem Einschlafen im Bett lesen. Manche lesen dann immer nur eine Seite wie ein «Bettmümpfeli». Im Schlaf wirken die Gedichte dann noch besser nach als im Stress des Alltags. Obwohl Gedichte meistens alleine gelesen werden, könnte ich mir vorstellen, dass sich meine Texte auch für das gegenseitige Vorlesen zu zweit eignen würden, auf dem Sofa oder an einem ruhigen Ort in der Natur, da meine Texte immer wieder auch Beziehungen zum Thema haben. Ich würde mich aber freuen, einmal zu erfahren, an welchen aussergewöhnlichen Orten meine Texte schon gelesen wurden.

Ist das neuste Werk eigentlich automatisch immer das liebste?

Viele Künstler/-innen wie Musiker/-innen, Autoren/-innen oder Maler/-innen tendieren dazu, das neueste Werk immer auch als das liebste anzupreisen, auch oft als das beste. Das ist bei vielen reines Marketing, um mehr von ihrem Kunstprodukt zu verkaufen. Als Lyriker wären solche Marketingüberlegungen in ihrer Auswirkung marginal. Aber es hat etwas, dass das neueste Werk immer das liebste ist. Schliesslich hat man über Monate evtl. über Jahre mit den Texten oder dem Inhalt des Buches gelebt und gerungen. Dadurch entstand Reibung und Wärme, man hat seinen Gedanken- und Gefühlsschweiss in die Zeilen der Texte und in die Zusammenstellung der Texte gelegt. Das geht nicht spurlos an einem vorbei. Wenn man sagt, dass das neueste Buch das liebste sei, meint man automatisch auch, dass es auch das beste sei. Das kann man zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aber noch nicht genau beurteilen, das muss die Zeit zeigen. Was man aber bei einem Gedichtband, der aus mehreren Texten besteht, sagen kann, ist die Tatsache, dass gewisse Texte stärker sind als andere. Bei einem Roman muss man immer das Gesamtwerk beurteilen. Bei einem Gedichtband kann jeder Text für sich stehen, und jeder kann einen Lieblingstext im Buch finden und stolz darauf sein, diesen gefunden zu haben. Beginnt ein Roman schlecht, legt man ihn nach ein paar Seiten zur Seite und liest nie mehr weiter. Ein Gedichtband kann auch schlecht starten, aber beim Lesen eines Gedichtbandes sucht man immer auch einen Lieblingstext, und der kann sich manchmal erst auf der letzten Seite offenbaren.

Und was wird folgen? Steht bereits eine Idee, ein Motto? Oder kristallisiert sich das Übergeordnete erst heraus, wenn erste Texte geschrieben sind?

Das nächste Buch wird, wie bereits erwähnt, ein weiterer Gedichtband sein, der im Frühjahr erscheinen soll und der auch kontroversere Gesellschaftsthemen zur Sprache bringen wird. Beziehungstexte werden aber weiterhin dazugehören, weil sie zentral für mein Verständnis von Kunst sind. Der Mensch steht immer im Mittelpunkt, und die Polarität in Beziehungen, ob sie nun gut oder schlecht sein mögen, wird mich im Schreiben immer faszinieren.

Ich gehe eigentlich nie mit einer Idee an ein Buch heran, ich schreibe zuerst einmal eine grosse Menge an Texten, seien es Gedichte oder Kurzgeschichten, fasse sie dann zusammen und gebe ihnen dann einen übergeordneten Titel, der manchmal auch nur vorgibt, übergeordnet zu sein, Hauptsache ist, dass er Raum zum Denken lässt und nach Möglichkeit noch einen poetischen Beigeschmack hat. Die Idee für einen Buchtitel oder ein Motto folgt immer den geschriebenen Texten und nicht umgekehrt. Das macht das Schreiben der einzelnen Texte aufregender. Wenn ich allerdings auf die Bühne gehe, stelle ich meine Texte meistens unter ein Thema, damit die Zuhörer/-innen mir und meinen Texten thematisch besser folgen können.

Da ich noch viele Texte nicht in Buchform veröffentlicht habe, werden die nächsten Jahre sicherlich Erntejahre sein, in denen ich das, was ich geschrieben habe, in kürzeren Abständen veröffentlichen kann. Da wird in den nächsten Jahren sicherlich auch wieder einmal ein Kurzprosaband dabei sein. Darauf freue ich mich jetzt schon, obwohl ich für viele mittlerweile als der Gedichteschreiber wahrgenommen werde, der Dinge gerne in kurzer Form auf den Punkt bringt.

Und wer weiss, vielleicht kommt mit zunehmendem Alter auch einmal ein Roman dazu, aber im Moment sieht es nicht danach aus, denn warum sollte ich eine Geschichte in Form eines Romans erzählen, wenn ich sie in einer Kurzgeschichte oder in einem Gedicht erzählen kann?

René Oberholzer
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Co-Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

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