Nennen wir ihn doch gleich Pierin, nicht mehr Vincenz. Schliesslich wissen wir inzwischen (fast) alles über ihn. Doch immer wieder gibt es Nachschub.
Was macht ein verantwortlicher Oberchefredaktor, wenn ihm ein weiteres, strikt vertrauliches Dokument zugespielt wird? In dem zudem nichts Neues, aber noch ein paar schmuddelige Details zu Bekanntem stehen?
Da gibt es zwei Möglichkeiten. Als Vorbild für seine Redaktionen sagt sich Arthur Rutishauser von Tamedia: ach nein, das ist einfach ein wenig unappetitlich, zudem ein klarer Bruch des Amtsgeheimnisses, und schliesslich kalter Kaffee. Dafür sind wir uns zu fein, moralisch und ethisch stehen wir über solchen Sachen.
Natürlich entschied sich Rutishauser, wie auch in der Vergangenheit immer wieder, für Möglichkeit zwei: raushauen, auf die saftigsten Details fokussieren. Er hat ja auch wieder Boden gutzumachen. Lange Zeit war er der Einzige, der die Öffentlichkeit mit vertraulichen Unterlagen und den ewigen Ankündigungen der Staatsanwaltschaft, dass nun aber gleich Anklage erhoben würde, belieferte. Aber dann wurde er auf der Zielgeraden wieder von «Inside Paradeplatz» abgetrocknet.
IP veröffentlichte zuerst die aufsehenerregendsten Stellen aus der Anklageschrift, da konnte Rutishauser nur hinterherhecheln. Und dann noch das; die NZZ verkündete stolz, dass sie im Besitz der gesamten 364 Seiten der Anklageschrift sei. Interessant, dass ihr das (noch) keine Strafanzeige eingebracht hat.
Aber jetzt setzt sich Rutishauser wieder an die Spitze der Enthüller. Wobei das der falsche Ausdruck ist; enthüllen würde ja eigene journalistische Arbeit voraussetzen. Nicht das Zusammenfassen eines zugespielten Papiers. Diesmal handelt es sich offenbar um das Einvernahmeprotokoll vom 24. Mai 2019. Fast ein Jahr nach der Entlassung von Pierin Vincenz aus der Untersuchungshaft bequemte sich die Staatsanwaltschaft, einen nicht ganz unwichtigen Beteiligten zu befragen.
Nämlich den Anfang März 2018 zurückgetreten VR-Präsidenten von Raiffeisen. Johannes Rüegg-Stürm hatte nämlich in dieser Eigenschaft alle Spesenbelege von Vincenz abgezeichnet. Das entspricht auch banalen Regeln der Corporate Governance, die Rüegg-Stürm bis heute an der HSG als Professor lehrt.
Spesen müssen immer von einem Vorgesetzten kontrolliert werden; ein Untergebener stünde schnell im Verdacht, es sich mit seinem Chef nicht verderben zu wollen. Und über Vincenz stand damals eigentlich nur Gott, aber im realen Leben der VR-Präsident.
Es ist längst bekannt, schon x-mal beschrieben, dass es eine der vielen Merkwürdigkeiten dieser Strafuntersuchung ist, dass innerhalb von Raiffeisen niemand als möglicher Mittäter in die Strafuntersuchung einbezogen wurde.
Es ist auch längst bekannt, dass Rüegg-Stürm seiner Kontrollpflicht in fahrlässiger und geradezu nach legalen und haftungsrechtlichen Konsequenzen schreiender Inkompetenz nicht nachgekommen ist. Neu an diesem Einnahmeprotokoll ist höchstens, bis zu welchem Grad der Lächerlichkeit sich Rüegg-Stürm herauszuwinden versuchte.
Die «Golden Bar» im ehemaligen St. Galler Rotlichtbezirk kannte Prof. Rüegg-Stürm nicht als Striplokal, also sah er keinen Grund, die dort angefallenen Spesen nicht abzunicken. Zwei Zahlungen an einen Stripclub in Lugano? «Ich habe bei diesem Namen keinen Verdacht gehegt.» Insgesamt 100'000 Franken Spesen dieser Art seien von Rüegg-Stürm durchgewinkt worden. Das sei «völlig unzulässig», entrüstet sich der Professor. Aber er hat bestätigt, dass er diese Spesen geprüft, genau angeschaut – und dann unterzeichnet hatte.
Genüsslich verliert sich Rutishauser nochmals in schmierigen Details der Spesen. Ein Polizeirapport beschreibe den desolaten Zustand der Hotelsuite im Zürcher Hyatt, nachdem es dort zu einer lebhaften Auseinandersetzung zwischen Vincenz und einer für ihn überraschend aufgetauchten Bekanntschaft kam. Abfall liege herum, die Wände seien mit Flüssigkeiten verschmiert, und an einer Wand stehe: «Ich hasse dich.»
Das alles führt zur nötigen Beantwortung einer Frage von Rutishauser: «Wie naiv kann man sein, bevor man zum Mittäter wird?» Naivität kann man Rutishauser sicher nicht unterstellen. Also muss die Frage lauten: Wie skrupellos und unverantwortlich muss man sein, wenn man über Jahre hinweg immer wieder aus zugespielten, vertraulichen Ermittlungsakten genüsslich zitiert, ohne Furcht vor rechtlichen Konsequenzen dieser wiederholten Amtsgeheimnisverletzung?
Selbst nach der Einreichung der Anklageschrift (und ihrer simultanen Veröffentlichung) gibt es offensichtlich immer noch Bedarf an der Beschreibung letzter, unappetitlicher Details. Wir warten nun auf die Recherche, welche Farbe die Unterhosen von Vincenz haben, wie gut der Inhalt bestückt ist, wie viele Damen er insgesamt und wie oft beglückte.
Was bei jedem anderen von Tamedia als widerlicher Voyerismus, Übergriff in die Privatsphäre, Amtsgeheimnisverletzung und Schändung der Unschuldsvermutung gebrandmarkt würde: Wer will den Chef daran hindern? Abgesehen davon: der Hinweis auf die Unschuldsvermutung kommt ihm offenbar selber inzwischen so lächerlich vor, dass er auf ihn verzichtet.
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