Es geschah Mitte Oktober vor zweieinhalb Jahren: Im Streit sticht ein heute 31-jähriger Schweizer auf seinen Bruder ein. Dieser stirbt später auf dem Weg ins Spital. Nun befasste sich das Kreisgericht Toggenburg mit dem Fall.
Der Angeklagte sitzt während der ganzen Verhandlung ruhig da. Sein volles, langes, lockiges, schwarzes Haar hält er mit einem Rossschwanz in Zaum. Sofern, und wenn er die Fragen des Richters überhaupt beantwortet, spricht er ruhig und wählt seine Worte sorgfältig. Er ist der zweitjüngste von vier Brüdern, seine Kindheit verbrachte die Familie mit einem nordafrikanischen Elternteil in Bazenheid. Nach acht Jahren verliess er die obligatorische Schule, fing eine Anlehre im elterlichen Betrieb an und wechselte später an eine Privatschule, die er ebenfalls abbrach. Er lebt(e) von Sozialhilfe und wartet nun auf den Entscheid der Invalidenrentenversicherungen, wo er einen Antrag auf IV-Rente eingereicht hat.
«Wie wär’s mit Arbeiten?», fragte ihn spitzzüngig sein älterer Bruder an jedem verhängnisvollen Oktobertag, als der Angeklagte diesen am Telefon um Geld anging. Das schien das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Der Beschuldigte befand sich in seinem Elternhaus in Bazenheid, wo er mit seinem jüngeren Bruder am Computer spielte. «Komm her, ich schlitz dich auf», forderte er mehrmals und erzürnt seinen älteren Bruder auf. Dieser – anstatt der Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen – wollte die Situation wohl nach seiner Art, mit Einschüchterung und Gewalt lösen und begab sich tatsächlich zum Elternhaus.
«Friss mein Blut»
Dort fand er eine verschlossene Tür und einen Vater und den jüngsten Bruder vor, die ihn eingehend davor warnten, das Haus zu betreten, weil der Angeklagte sich eines Rüstmessers behändigt hatte und immer noch ausser sich vor Wut war. Der ältere Bruder verschaffte sich Zugang, es kam zum Gerangel und der körperlich unterlegene Angeklagte lag auf dem Boden unter ihm. Es flogen Fäuste und der kleinere Bruder traf den älteren mit dem Rüstmesser unter dem Ohr am Hals: Er verletzte die Halsschlagader.
«Friss mein Blut», schrie der über dem Angeklagten liegenden Bruder, als dieses aus seiner Wunde und auf den Angeklagten spritzte.
Dann rannte der ältere Bruder, sich die Stichwunde mit der Hand zuhaltend, zur nahegelegenen Arztpraxis, wo er notfallmässig versorgt und anschliessend ins Kantonsspital St.Gallen geflogen wurde. Leider zu spät: er verstarb noch auf dem Weg ins Krankenhaus an seiner Verletzung wegen Blutverlust.
Physische und sexuelle Gewalt
Der Angeklagte erklärte sich sein Ausrasten mit der physischen und der sexuellen Gewalt, der er während seiner ganzen Kindheit durch seinen älteren Bruder ausgesetzt war. Die Staatsanwaltschaft glaubte ihm, waren diese Vorfälle lange vor der Messerattacke aktenkundig. Der ebenfalls an der Verhandlung anwesende jüngste Bruder verneinte allerdings, dass es je zu sexuellen Übergriffen kommen sei, er hätte ja etwas mitbekommen müssen. Auch die beiden Anwältinnen der Zivilklägerschaft zogen diese angeblichen Vorfälle mit einer schwer verständlichen Vehemenz in Zweifel. Der Bruder verlangte 8000 Franken und die kosovarische Verlobte des Opfers 30'000 Franken Genugtuung für den erlittenen Schmerz.
Urteil weit über der Forderung des Staatsanwaltes
Der Verteidiger plädierte auf Freispruch: Sein Mandant sein provoziert worden und «das Unglück» – wie er den Sachverhalt wiederholt nannte – sei als Notwehr zu taxieren. Die Staatsanwaltschaft hingegen forderte einen Schuldspruch wegen vorsätzlicher Tötung und verlangte eine Freiheitsstrafe von 32 Monaten, 12 davon unbedingt, samt vollzugsbegleitender ambulanter psychiatrischer Behandlung.
Obschon das forensisch-psychiatrische Gutachten dem Angeklagten eine massive Einschränkung der Steuerungsfähigkeit attestierte, war das Gericht der Ansicht, dass der Beschuldigte das Kapitalverbrechen eventualvorsätzlich ausgeführt hat. Nach dreistündiger Beratung verurteilte es ihn zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren und zu einer ambulanten psychiatrischen Behandlung nach Artikel 63 StGB. Zudem muss er die Verfahrenskosten von insgesamt knapp 90'000 Franken berappen und den Privatklägerschaften 8000 beziehungsweise 16'000 Franken Genugtuung bezahlen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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