Die Schweizer Jubelpresse schreibt Corona-Texte, die man nur noch mit einer Parabel einfangen kann. Herausragend: die Co-Chefredaktorin des «Tages-Anzeiger». Sie jubiliert über die neue Zertifikats-Freiheit, als hätte sie Bert Brecht gelesen.
Der Montag war Jubeltag. Er ist «Grund zur Freude», wie Priska Amstutz trillert. «Viele Geimpfte und Genesene erhalten durch die Ausweitung der Zertifikatspflicht ein Stück Normalität zurück», behauptet die Co-Chefredaktorin. «Chef» und «redak» kann man auch streichen.
«Ein bisschen Freiheit», ist ihr Kommentar überschrieben, wie sang weiland Nicole so herzzerreissend: «Ein bisschen Frieden». Leider ist die Welt nicht friedlich geworden, und die Schweiz ist garantiert nicht freier geworden an diesem Montag, als die Zertifikatspflicht fast überall eingeführt wurde.
In diesem Sinne bitte ich an dieser Stelle die Leser, ihren Zertifikats-QR-Code kurz vor die Kamera ihre Computerbildschirms zu halten. Leider müssen wir uns hier von all denen verabschieden, die das nicht können.
Denn, das weiss Amstutz: «Genuss ohne Angst: Die Ausweitung der Zertifikatspflicht beschert uns neue Freiheiten.» Allerdings müssten die Auswirkungen des Virus auf die Hirntätigkeit dringend genauer untersucht werden.
Denn seit Kriegsministerien in Verteidigungsministerien umbenannt wurden, gab es noch nie eine solche Perversion der Begrifflichkeiten. Freiheit ist Unfreiheit, freiwillig ist nicht Zwang, Registrierung ist Datenschutz. Und die Sonne macht dunkel, die Nacht ist der Tag und Schwarz ist ein anderes Wort für Weiss.
Niemand hat die Absicht, eine Impfpflicht einzuführen. Niemand muss ein Zertifikat mit sich führen. Niemals. Wer will auch schon in Restaurants, Sportanlagen, kulturelle Einrichtungen, wer will schon am sozialen Leben teilnehmen. Wird doch alles überschätzt.
Zurzeit haben die Schweizer Medienclans doch die zusätzliche Subvention in Form von einer Milliarde Steuergeld auf sicher, wieso müssen sie dann Politik und Regierung sozusagen von unten her kommend dermassen das Halszäpfchen lecken?
Oder ist es einfach so, dass eine eigentlich völlig überflüssige, ins dritte Glied zurückbeförderte Co-Chefredaktorin halt gerne Anekdoten aus ihren Sommerferien erzählt, die sie offenbar in Kopenhagen verbrachte? Hoffentlich hat sie für diese Reise auch eine Klimakompensation abgedrückt, das wäre dann das mindeste, im Fall.
Amstutz haut im Überschwang sogar ihrem eigenen Organ eins über die Rübe: «Als der Bundesrat vor einigen Tagen die neue Zertifikatspflicht bekannt gab, erschien in dieser Zeitung ein Artikel mit dem Titel «So kam es zu den Einschränkungen für zwei Millionen Menschen». In den sozialen Medien postete ein User danach ein Bild, auf dem er mit Rotstift unsere Schlagzeile «korrigiert» hatte: «So kam es zur Erleichterung für sechs Millionen Menschen»».
Immerhin bekommt sie von den meisten Kommentarschreibern selber kräftig eins über die Rübe; denen ist ihre Perversion der Begrifflichkeiten nicht entgangen. Es melden sich aber auch all die Untertanengeister, die Blockwarte und Denunzierer, die noch mehr Strenge fordern: «Es braucht nun systematische Kontrollen und ggf. Ahndung durch die Polizeiorgane, angesichts der Tatsache das diverse Gruppierungen teils offen Obstruktion angekündigt haben.» Orthografie ist nie deren Stärke.
Statt im Norden Gastfreundschaft und «unbeschwertes» Leben zu geniessen, hätte Amstutz vielleicht ihren Bildungsrucksack mit der Lektüre einer Keuner-Geschichte von Bert Brecht füllen können. Beides kann man googeln, weil wohl unbekannt. Hier ist die Kurzgeschichte «Wenn die Haifische Menschen wären» sehr zu empfehlen. Denn der grosse Dialektiker Brecht wusste schon damals, dass die Umwertung von Werten und Begriffen ein ewiges Übel ist, durch alle Gesellschaftsformen hindurch. Deshalb schrieb er:
«Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, dass die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitäre Maßnahmen treffen. Wenn zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige.»
Daher die dringliche Empfehlung: lest mehr Brecht, weniger Amstutz. Das macht die Welt auch nicht viel besser, steigert aber das intellektuelle Wohlbefinden ungemein – und erhöht die Abwehrkräfte gegen Geschwurbel, Gegblubber und geistigen Dünnpfiff.
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