Seit über 200 Jahren wird in Appenzell Bier gebraut, seit 1886 von der Familie Locher. Aus dem Kleinbetrieb ist die grösste Privatbrauerei der Schweiz geworden. Eine Erfolgsgeschichte auch aus Ostschweizer Sicht. Denn die Brauerei Locher ist längst zum Botschafter einer ganzen Region geworden.
10'000 Hektoliter Bier pro Jahr: Das klingt für den durchschnittlichen Geniesser nach einem unendlichen Nachschub. Für eine Brauerei ist es aber ein ziemlich bescheidener Ausstoss. Noch vor rund 30 Jahren hat die Brauerei Locher in Appenzell diese Menge produziert. Heute ist es mehr als das 20-Fache davon. Und aus den einst 10 Mitarbeiterin sind fast 100 geworden. Heimlich, still und leise haben sich die Macher des Appenzeller Bier zur grössten privaten Brauerei der Schweiz entwickelt. Aber da ausländische Grossbrauereien für den Löwenanteil des Gesamtabsatzes besorgt sind, bezeichnet man sich in Appenzell nach wie vor – und durchaus mit Stolz – als Kleinbrauerei.
Das ist vielleicht durchaus auch ein wenig Kalkül. Denn der regionale Geist, die Bescheidenheit, die überschaubaren Strukturen: Das alles trägt zum positiven Image der Brauerei in der ganzen Schweiz bei. Sie und ihre Produkte sind Sympathieträger. Noch vor wenigen Jahrzehnten bediente die Familie Locher einen Radius von 13 Kilometern mit dem Gerstensaft. Und heute: Touristen aus der Deutschschweiz halten im Tessin Ausschau nach dem Appenzeller-Bier-Logo, Zürcher Szenebeizen setzen auf Spezialitäten aus Appenzell. Auch im Ausland stösst man vielerorts auf die Etiketten mit den traditionellen Motiven. Appenzell wird global.
Alte Schätze erhalten
Die Tradition bleibt dabei als Fundament bestimmend, sie wird hochgehalten in vielen Bereichen. Doch wenn es um die Produktion des Bieres und die Kreation neuer Schöpfungen geht, setzt man auf Errungenschaften von heute. Gebraut wird in einem vor wenigen Jahren entstandenen Neubau mit modernster Technologie. Am einstigen Stammstandort mitten im Dorf ist mit der «Brauquöll Appenzell» eine Erlebniswelt entstanden, die derzeit noch weiter ausgebaut wird. Sie bietet mit Führungen, Degustationen und mehr einen Einblick in die Brauerei.
Doch der grösste Unterschied zu den meisten Brauereien: Das Herz der Familie Locher und ihrem Team schlägt für ganz besondere Produkte. Der Betrieb wurde bewusst so flexibel organisiert, dass es möglich ist, schnell neue Ideen auch in kleineren Mengen zu realisieren. Sie aufzuzählen, würde zu weit führen. Aber dass auch mal Reis, Kastanien oder Birnen- und Apfelsaft – für eine alkoholfreie Variante – bei der Kreation Pate stehen, sagt schon viel. Da wird auch mal für ein einzelnes Dorffest ein Bier aus der Taufe gehoben, das danach plötzlich zum Stammsortiment gehört, weil es ankommt – wie der «Brandlöscher». Nicht alles verläuft nach einem festen Plan, aus einer flüchtigen Idee wird nicht selten durch unternehmerischen Geist etwas Bleibendes.
Denn hier in Appenzell muss nicht alles, was als Geistesblitz aufkommt, umgehend zu einem Umsatzfaktor werden. Denn aus der Geschichte heraus ist es der Familie ein grosses Anliegen, alte Schätze zu erhalten. Ein Beispiel dafür ist das Hanfbier: Es bewegt sich in der Nische und wird kaum je ein gewinnträchtiges Massenprodukt sein; aber es führt ein Stück Tradition fort.
Bier ist nicht alles
Vom Bekenntnis zu Geschichte und Region profitieren viele. Früher war Schweizer Bier im Grunde eine ziemlich ausländische Angelegenheit, die Braugerste wurde importiert. Als erste überhaupt hat die Brauerei Locher vor 25 Jahren mit dem Anbau des Korns im eigenen Land begonnen. Dutzende von Landwirten stehen dafür im Einsatz. Das Bekenntnis zur eigenen Region macht die Brauerei authentisch und ist gleichzeitig ein Wirtschaftsfaktor.
Doch Bier ist nicht alles. Da ist natürlich auch noch der «Säntis Malt». Umgehend, nachdem die Produktion von hochprozentigen Getränken aus Getreide oder Kartoffeln 1999 in der Schweiz erlaubt worden war, ging die Brauerei Locher ans Werk, 2002 war der eigene Whisky bereits auf dem Markt. Er lagert in Bierfässern und wird wie die anderen Produkte aus Alpsteinquellwasser hergestellt.
Die beste Erfolgskontrolle ist die Entscheidung der Konsumentinnen und Konsumenten, und was das angeht, weiss die Appenzeller Brauerei angesichts der Entwicklung in den vergangenen Jahren, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Doch Bier hat sich, nachdem es in dieser Beziehung lange im Schatten von Wein stand, inzwischen zu einem Kulturgut entwickelt, das dank Spezialitäten Einzug gehalten hat in die gehobene Küche, das verkostet wird wie ein edler Rebensaft und das längst nicht mehr «nur» ein Fall für den Stammtisch ist.
Honigbier überzeugt Experten
Entsprechend gibt es heute auch zahlreiche Auszeichnungen für hohe Braukunst. Auch hier glänzt das Appenzeller Bier. Vor wenigen Monaten wurde beispielsweise das Honigbier «Mielfiore» an einem europäischen Wettbewerb in Nürnberg mit der Goldmedaille ausgezeichnet. In einer Blindverkostung überzeugte es die Experten. Mit dem Verkauf des Honigbiers wird die Aufzucht von Bienen unterstützt, die Rohstoffe kommen ausschliesslich von Siegel-Imkern unterstützt.
Der Kreis schliesst sich also auch hier: Ein innovatives Produkt, im Geist alter Traditionen und modern produziert – und stets mit dem Blick auf die Nachhaltigkeit. Denn nur, was erhalten bleibt, kann auch in Zukunft die Grundlage für neue Schöpfungen bilden.
Mehr als «Nebenprodukte»
Bei der Produktion von Bier fallen Reststoffe an, die keineswegs ein Fall für die Entsorgung sein müssen, wenn man weiter denkt. In diesem Bereich hat die Brauerei Locher in den vergangenen Jahren Massstäbe gesetzt. Was tun mit Treber, Hefe, dem Vorbier und der Nebenwürze, lauter wertvollen Indigrienzen? Aus ihnen – und auf die Idee muss man auch zuerst kommen – lässt sich zum Beispiel ein Pizzateig herstellen. Aus dem Treber entstehen die knusprigen «Tschipps». Bieressig ist die Grundlage für einen Balsamessig. Rinder und Kälber werden mit drei Nebenprodukten gefüttert und mit Bierhefe massiert für das berühmte Kabier-Fleisch. Und vieles mehr ist in Entwicklung. So sollen mit Nährstoffen angereicherte Nebenprodukte aus dem Sudhaus einst der Fischzucht dienen, eine Eistee-Essenz auf Malzbasis entstehen und vieles mehr. Dabei geht es dem Unternehmen weniger um die Diversifizierung auf andere Bereiche, sondern um die Nachhaltigkeit, einem grossen Anliegen der Brauerei. Es zeigt aber auch die Vielseitigkeit der Welt des Bieres, einem Naturprodukt, das in der Entstehung den Weg öffnet für weitere.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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