Werner, 53 Jahre jung, träumt davon, sich zu entfalten. Und weil Werner eine Vorliebe für alkoholische Erfrischungen hat, aber trotzdem seine intellektuelle Aura nicht verlieren will, hat er einen Entschluss gefasst: Ab heute wird er Weinkenner.
Doch wie verhält sich ein Weinkenner denn so? Was macht ihn aus? Und wie wird man zu einem echten Weinkenner?
Nun, das Leben eines Weinkenners kann man in einem Wort zusammenfassen: Genuss. Wein wird nicht einfach getrunken, er wird genossen. Er wird probiert und studiert und ihm werden Adjektive zugesprochen. Über Wein redet man. Weine degustieren bedeutet auch immer diskutieren, über Aroma und Farbe und Trübung und Abgang.
Im Geniessen ist Werner zum Glück bereits geschult, stundenlanges In-der-Hängematte-Liegen und dabei die Sonne auf den Bauch scheinen lassen machen ihn zu einem Genuss-Experten. Nur das Reden über Weine, das macht Werner aufgrund seines fehlenden Fachjargon noch zu schaffen. Aber wie trinkt man denn richtig Wein? Und was genau trennt die einfachen Trinker von den professionellen Mitredern?
Ganz essenziell ist, dass alle Sinne, nicht nur der Geschmackssinn, bei einem Weinkenner ausgeprägt sein müssen. Es reicht nicht, den Wein einfach nur zu schmecken. Er muss gesehen, gerochen, geradezu im Herzen gefühlt werden.
Zuerst einmal ist da das Auge, welches den Wein im Lichtschein auf Farbe und Trübung untersucht. Am besten vor einem neutralen Hintergrund, sodass auch nichts von der Analyse ablenken kann. Jetzt versteht Werner auch, wieso die Tischdecken in den teuren Restaurants immer so weiss und makellos sind. Es gibt also wirklich eine Überlegung dahinter, nämlich, dass wenn ein Kenner von oben in sein Weinglas luschert, er nicht von Blümchen-Mustern oder gar karierten Kästchen abgelenkt wird. Es ist also nicht die Intention der hochwertigen Deckchen, dass sich die Gäste schämen müssen, weil sie braune Salatsauce über den Tellerrand gekleckert haben. Es geht hier nicht um Scham, sondern um Genuss. Wie so vieles im Leben.
Aber zurück zum Wein. Dieser kann farblich von einem blassen Gelb bis zu einem intensiven Kirschrot variieren. Beim Farben-Bestimmen hängt man am besten mehrere obsolete Adjektive an die Beschreibung und assoziiert zudem ein Nahrungsmittel mit der Färbung des Weines. Kirschrot. Johannisbeerviolett. Lachsrosa. So wird man zum Kenner.
Gut, das mit dem Sehen des Weines ist nun geklärt. Doch wie geht es weiter? Nach intensiver Begutachtung folgt eine noch ausführlichere Inspektion mit Hilfe der Nase.
Hier die Anleitung: Den Wein im Glas vorsichtig zur Nase bringen, dabei bloss nicht in zu viel Bewegung versetzen. Erst einmal riechen. Dann schwenken. Noch einmal riechen.
Aber wie beschreibt man diese Gerüche als Weinkenner? Nun, ein Wein kann von fruchtig über würzig bis hin zu animalisch riechen. Deswegen ist es auch so wichtig, über eine ausgeprägte Nase zu verfügen.
Wein-Laien wie Werner ist zu raten, den eigenen Geruchssinn zu trainieren. Entweder, man kauft sich ein professionelles Aromenrad, oder man geht hinaus in die freie Wildbahn und schnuppert ungestüm in der Gegend herum. Auf dem Weg zur Arbeit die Nase in den Blumentopf des Nachbarn stecken, energisch den Duft der frisch zubereiteten Bolognese beim Lieblingsitaliener inhalieren, die Person auf dem Nachbarssitz im Zug heimlich beschnüffeln. Die Welt steht jedem offen, der riecht. Oder so ähnlich.
Doch nun, endlich, ist es so weit. Nach äuglicher Begutachtung und näslicher Beriechung ist der Kenner angekommen. Es darf geschmeckt werden.
Freudig antizipiert er den ersten Schluck Glück. Schweissperlen auf der Oberlippe. Die Hand schon fast zitternd, das Weinglas an die Lippen führend.
Werner, der Nichtswisser, würde jetzt einen Mundvoll Wein schlucken, zufrieden seufzen und dann gleich einen nächsten Zug trinken, weil es ihm so lecker schmeckt. Aber so macht das ein Kenner nicht.
Ein echter Kenner zieht schlürfend einige Tropfen Wein in den Mund, kaut diese für mindestens zehn Sekunden und lässt sie dann bedacht den Rachen heruntergleiten. Ein Kenner erkennt, wie sich der Abgang des Weines anfühlt, ob der Mund durch die erhöhte Anzahl Tannine staubtrocken geworden ist. Ein Kenner weiss, dass man nicht sofort nach dem ersten Schluck einen zweiten nimmt.
Denn davor kommt die Nase noch einmal zum Einsatz, erschnüffelt erneut das Aroma des Weines. Erst dann darf, nach hitziger Diskussion mit dem Nebenkenner über Aromen und Abgang und Alkoholgehalt, ein zweiter, winziger Schluck genommen werden.
So macht das ein Kenner. So trinkt man Wein.
Wow. Werner ist überwältigt. Zu viel zu lernen, zu wenig zu trinken. Werner entschliesst sich: Er wird wohl doch kein Weinkenner.
Lieber macht er es so: Er trinkt, er schmeckt, er trinkt noch mehr. Seine Bäckchen färben sich rot, nicht so granatapfelrot wie der Wein in seinem Glas, aber immerhin rot.
Denn das ist Wein für Werner. Rote Wangen. Freude am Leben. Genuss.
Zumindest letzteres hat er mit den echten Kennern gemeinsam.
Lea Tuttlies (*2002) aus Amriswil studiert in Erfurt Internationale Beziehungen.
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