'Die Ostschweiz' – darunter verstehen nicht alle das Gleiche. Dennoch scheint ein informeller Konsens zu existieren: Als 'Ostschweiz' sehen wir keineswegs die östlichsten Gebiete Helvetiens (Unterengadin & Münstertal); und die Ostschweiz gehört NICHT zu Zürich. Was aber macht die Ostschweiz aus?
Vermutlich finden wir uns auch in einer positiveren Charakterisierung: Wer hier lebt, profitiert von einer, extremen Auswüchsen abgeneigten Lebensqualität. Die Ostschweiz hat den Ruf wunderschöner Landschaften mit 'bodenständig' gebliebenen Preisen. Da ist man gerne unterwegs. Dabei interessiert wenig, ob man Bello's Stöckchen vom St.Galler Boden in's ausser- oder innerrhodische Hoheitsgebiet wirft. So veranschaulicht das reale Leben, wie wenig Sinn Kantonsgrenzen z.B. für Planungs- oder Gesetzgebungsprozesse machen. Denn was nützen Vorschriften, von denen kaum jemand weiss, wo sie theoretisch beginnen oder enden würde?
Napoleon verdanken wir unsere Grenzverläufe. Allerdings sah der kleine Korse anfänglich andere Verwaltungsgrenzen vor. Doch als sich Widerstand organisierte, war es für Paris nicht so wichtig, wie zukunftstauglich die räumliche Ordnung rund um den fernen Alpstein ausfiel. So verwalten wir uns noch immer in wenig effizienzfördernden Strukturen. Beispielsweise mit einem Ringkanton, dessen Teilräume kaum gemeinsame Interessen haben: Selbstverständlich ist ein Zürcher Theater aus Sicht Rapperswil viel näher liegend als dasjenige in St.Gallen.
Eine Neuordnung unserer Kantone werden wir kaum erleben. Also bleibt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Wäre es z.B. nicht logischer, unser Gesundheitswesen in einer Region 'Säntis' zu organisieren statt bis an Kantonsgrenzen? Immerhin gibt es für den südlichen Kantonsteil neuerdings Absichtserklärungen zwischen St.Gallen und mehreren Nachbarkantonen. Doch ist eine Feuerwehr gut unterwegs, die sich über nachbarschaftliche Synergiepotentiale erst Gedanken macht, wenn es brennt?
Einen hoffentlich vorausschauenderen Ansatz erlebten wir kürzlich mit Unterzeichnung der Charta zum Metropolitanraum Bodensee. Sinnvollerweise soll hier die Zusammenarbeit gar über nationale Grenzen hinweg gepflegt werden. Auch das hochindustrialisierte Rheintal als funktionale Einheit zu verstehen ist nachvollziehbar: Gewässer wie der Rhein hatten schon immer mehr Verbindungs- als Trennfunktion. Und dass sich Voralberg kaum Richtung Orient orientiert, zeigt sein Name: Aus Sicht Wien wär's eben 'Hinterarlberg'.
Noch steht in den Sternen, mit wie viel Leben die Zusammenarbeits-Plattform bespielt wird. ‘Typisch Ostschweiz’ wirkt dabei, wie die Thurgauer Regierung im Unterschied zu dortigen Wirtschaftsorganisationen erst mal abseitssteht. Man will sich nicht Richtung Westen UND Osten orientieren? Genau das ist in diesem ebenfalls napoleonischen Erbe die Realität! Naja: Für das 'Bohren dicker Bretter' braucht’s hierzulande Geduld, Hartnäckigkeit - und fast immer mehrere Anläufe. So sehnt man sich auf mancher Baustelle nach ‘ner drehmomentstarken 'Hilti'. Die käme dann aus dem Fürstentum. Dennoch wünschen wir viel Erfolg. Und: Einen langen Atem…
Thomas Brunner (*1960) ist seit Dezember 2019 im Nationalrat. Er vertritt dort die Grünliberale Partei (GLP) des Kantons St.Gallen.
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