Nun ist klar, was der Ostschweiz fehlt: Wir brauchen eine eigene Tamara Funiciello, um endlich ins Gespräch zu kommen.
Teure Marketingkonzepte, Standortstudien, Lobbying in Bundesbern: Und die Schweiz hört immer noch nach Winterthur auf. Wir schaffen es nur in nationale Schlagzeilen, wenn es irgendwo brennt - in einem Haus oder (symbolisch) einer Genossenschaftsbank mit Sitz in St.Gallen. Ansonsten werden wir Ostschweizer totgeschwiegen.
Spätestens seit heute ist auch klar, warum das so ist. Uns fehlt ein Hofnarr. Oder eine Hofnärrin. Jemand, der völlig abgedreht ist - und der oder die zugleich ein offizielles Amt und damit einen direkten Weg zu den Medien hat.
Die Berner haben so jemanden in der Person von Tamara Funiciello. Die Dame ist Juso-Präsidentin und damit von Amtes wegen dazu verpflichtet, Protestschreiben zu veröffentlichen. Schwierig wird das dann, wenn es gerade nichts zu protestieren gibt. Der Klimawandel ist nach einigen Wochen Trockenheit durchgekaut, die politische Schweiz kehrt erst langsam aus der Sommerpause zurück.
Was also tun? Kein Problem für Frau Funiciello. Sie überlegt sich, welches Element des Schweizer Alltags mit absoluter Sicherheit und jeder Garantie nun gar nichts zu beanstanden gibt - und beanstandet es. Denn sie weiss, dass der Aufschrei in den sozialen Medien umso grösser ist, je absurder ihr Protest ausfällt.
Zielsicher kritisiert sie nun den Schweizer Hit «079» von Lo & Leduc. An dem Song gäbe es einiges auszusetzen, vor allem, dass man ihn nur sturzhagelvoll erträgt. Aber das stört die Juso-Präsidentin nicht, nein, sie bemängelt den Seximus im Lied. Konkret stört es sie, dass in «079» ein Mann mehrfach versucht, die Handynummer einer Frau zu kriegen, auch wenn diese sich weigert. Für Tamara Funiciello schlimm, wie sie auf 20minuten sagt: «Wir müssen uns fragen, ob wir solches Verhalten in unserer Gesellschaft wollen oder nicht, und auch, wo solches eigentlich hinführt.»
Sie hat natürlich recht. Eine Person, die sich in einem Song nicht korrekt verhält: Unfassbar. Man stelle sich vor, es würden plötzlich Filme gedreht, in denen Leute andere Leute erschiessen. Oder ein Buch, indem ein Wall-Street-Banker Frauen schlecht behandelt. Völlig undenkbar. Die Aufgabe von Kulturgut ist es, uns allen nur völlig korrektes und moralisch einwandfreies Verhalten zu zeigen. Im nächsten «Tatort» werden die Kommissare deshalb an ihrem Pult sitzen und «Solitär» am PC spielen, weil es keine Verbrecher mehr gibt. Und der nächste Hit von Lo & Leduc wird nur noch 12 Sekunden lang sein, weil der Typ sofort verschwindet, als ihm die Angebetete die Handynummer nicht geben will.
Bis es soweit ist, müssen wir die Nische aber nutzen. Wo sind unsere Funiciellos, die systematisch jede Handlung und jeden Satz auf eine mögliche Protestnote abklopfen und dann lautstark empört sind? Hätten wir so eine, wären wir jetzt auf dem grössten Onlineportal der Schweiz unübersehbar vertreten. Aber nein, wir lassen mal wieder diesen Bernern den Vortritt.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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