Der Thurgauer Rechtsanwalt und SVP-Kantonsrat ist laut der «Thurgauer Zeitung ein «Corona-Autist». Massnahmenkritiker sind «Covidiotinnen». Was man sonst nur aus gehässigen Leserkommentaren kennt, findet sich nun im redaktionellen Teil.
Dass die «Thurgauer Zeitung» als Teil des Verbunds CH Media Stimmen nicht mag, die gegen die offizielle Coronapolitik laut werden, ist bekannt. Sie werden entweder aus der Berichterstattung verbannt oder aber zwar aufgenommen, aber dann auf diffamierende Weise.
Die jüngsten Beispiele erreichen aber eine neue «Qualität».
Der SVP-Kantonsrat Hermann Lei, Kritiker der Coronamassnahmen, hatte vor einigen Wochen für Gesprächsstoff gesorgt, als er vor den Delegierten seiner Partei das Covid-19-Gesetz vorstellte. Er übernahm es dabei in einer Person, die Ja- und die Nein-Parole zu «vertreten», weil SVP-Regierungsrat Urs Martin, der für ein Ja gestanden wäre, verhindert war. Viele Delegierte nahmen Leis Präsentation der Befürworterseite als Parodie wahr.
Ob das richtig oder geschickt war, darüber kann man diskutieren. Auch innerhalb der SVP waren im Nachhinein kritische Stimmen aufgekommen. Immerhin hatte es Unterhaltungswert, was man von Delegiertenversammlungen in aller Regel nicht behaupten kann.
Die Frage ist, ob sich damit rechtfertigen lässt, was sich Hermann Lei in einem redaktionellen Beitrag der «Thurgauer Zeitung» gefallen lassen muss. Diese bezeichnet ihn wortwörtlich als «Corona-Autisten». Zur Erinnerung: Autismus ist eine ernsthafte medizinische Diagnose, die wie jede andere Einschränkung in keinem Fall auf einem missliebigen Menschen angewendet werden sollte. Detail am Rande: Kurz zuvor veröffentlichte dieselbe Zeitung das Porträt einer Mutter, die auf bewegende Weise über ihren an einer Psychose leidenden Sohn erzählt. Sie hat wohl nicht geahnt, dass dasselbe Blatt gerne auf Krankheiten zurückgreift, um einen Andersdenkenden zu beleidigen.
In der Kolumne «Murgspritzer» derselben Zeitung werden Massnahmenkritiker gesamthaft als «Covidiotinnen und Coronaschwurbler» bezeichnet. Ähnlich schmeichelhaft wie «Corona-Autist». Offenbar ist es für den Autor der Kolumne undenkbar, dass jemand Kritik an der Coronapolitik üben kann, ohne ein «Idiot» oder ein «Schwurbler» zu sein.
Während es sich beim «Idioten» bereits um ein je nach Situation strafrechtlich wohl relevantes Wort handelt, ist der seit langem sehr beliebte «Schwurbler» einfach nur inhaltsleer. Es gab Zeiten, da war gesunde (und aufgrund der Situation durchaus berechtigte) Skepsis gegenüber Regierenden und Behörden eine akzeptierte Grundausstattung jedes Demokraten. Inzwischen «schwurbelt» jeder, der es wagt, nachzufragen oder zu kritisieren. «Geschwurbel» bedeutet laut Definition: unverständliche, realitätsferne oder inhaltslose Aussagen. Ziemlich mutig, angesichts einer weitgehend unwirksamen und willkürlichen Politik jemandem «Realitätsferne» zu unterstellen, der sie kritisiert.
Kommt dazu, dass im letzten Juni 40 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer trotz des Druckmittels der Wirtschaftshilfe der Coronapolitik des Bundes eine Absage erteilt hatten. Also haben wir zu zwischen einem Drittel und der Hälfte des Stimmvolks nur Autisten, Idioten und Schwurbler? Dann hat die Schweiz ein Problem.
Und der Thurgau sowieso. Denn dort hatten sogar über 50 Prozent zur damaligen Fassung des Covid-19-Gesetzes Nein gesagt. Die «Thurgauer Zeitung» macht also ein Blatt, das aus ihrer Sicht zur Mehrheit aus Leuten besteht, die ernsthaft krank oder dämlich oder verschwörungstheoretisch veranlagt sind.
Hermann Lei hat laut einem Facebookeintrag seine Konsequenzen bereits gezogen und die Zeitung abbestellt. In den Kommentaren zu seinem Beitrag kündigen einige an, es ihm gleich zu tun. Wie lange es sich die anderen Leser noch antun, mehrere hundert Franken pro Jahr für ein Abonnement auszugeben, um sich dann beschimpfen zu lassen, wird man sehen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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