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Abstimmungs-Nachlese

Zwei Regionen geben Anlass zur Hoffnung – die Ostschweiz inklusive

Rot stechen sie aus der Schweizer Landkarte, einige Kantone in der Ost- und in der Zentralschweiz. Als einzige verwarfen sie das Covid-19-Gesetz. Zufall war das vermutlich keiner. Nun beginnt die Zeit, in der Versprechen eingelöst werden können.

Stefan Millius am 14. Juni 2021

60,2 Prozent haben sich laut Darstellung der meisten Medien am Sonntag hinter das Covid-19-Gesetz von Bundesrat und Parlament gestellt. Eine gewagte Formulierung. Hinter dem Gesetz als Paket standen kaum sechs von zehn Leuten. Aber eine Mehrheit kaufte das ab, was wider besseres Wissen behauptet wurde: Dass das Gesetz die einzige Möglichkeit sei, notleidenden Unternehmen unter die Arme zu greifen.

Als wenn es sich der Staat leisten könnte, eine Notlage, die er selbst wissentlich herbeigeführt hatte, einfach zu ignorieren, wenn die Schweiz Nein gesagt hätte zu einem Gesetz, das bunt Dinge vermischte, die nicht zusammengehören.

Die Zentralschweiz, die gestern bei einer weiteren – wohl nicht der letzten – Kundgebung in Form ihrer Treichler wieder lautstark vertreten war, liess sich davon weder verführen noch unter Druck setzen. Hier übten mehrere Kantone Widerstand in Form einer Ablehnung. Und ebenso die Ostschweiz. Innerrhoden deutlich mit über 60 Prozent, Ausserrhoden mit über 53, im Thurgau herrschte praktisch ein Patt, der Kanton St.Gallen nahm das Gesetz äusserst knapp an.

Die Landkarte spricht eine eindeutige Sprache. Man kann nicht von «urban gegen Landregionen» sprechen, weil es das «Land» nicht nur im Osten und in der Mitte gibt. Es war wohl mehr ein tief verwurzeltes, aber gesundes Misstrauen gegenüber dem Versuch, mehr Macht beim Staat zu ballen. Und vielleicht ist man auch gerade in der Ostschweiz einfach vielfältiger informiert (pardon, der musste sein).

Nützen tut es nichts in der Gesamtabrechnung. Über 60 Prozent Zustimmung wären bei der meisten Vorlage ein Grund zum Jubeln für den Bundesrat. Aber ist es wirklich ein gutes Resultat, wenn es entstand, indem man den Leuten vor dem Stimmlokal das Messer an die Brust setzte? Nichts anderes war die Behauptung, das Ja sei die einzige Überlebenshilfe für Unternehmen, die nach bald 18 Monaten Willkür auf dem Zahnfleisch gehen. Weite Teile der Schweiz schluckten das – und damit viele andere Dinge, die ihnen noch schwer auf dem Bauch liegen dürften später. Die Ostschweiz blieb wachsam. Hier spürte man, dass das nicht die Grundlage einer Demokratie sein kann.

Wäre das Bewusstsein dafür verbreitet gewesen, dass das Covid-19-Gesetz nicht die einzige Möglichkeit ist, die Unterstützungsmassnahmen für die Wirtschaft weiter laufen zu lassen, hätte es keine Chance gehabt. Denn es wurde in jeder Debatte deutlich, dass das das einzige «Argument» war, das verfing. Eine traurige Rolle dabei spielten auch die Wirtschafts- und Branchenverbände, die – völlig blind für alle anderen Aspekte – einfach ihre umgehende Sicherheit haben wollten. Verbände haben den Tunnelblick, sie retten für sich selbst, was zu retten ist, was auch immer daneben sonst noch geschieht. Statt Druck auf die Politik auszuüben und zu sagen: Gebt uns, was uns zusteht, aber tut das nicht in Form eines Pakets mit einem Dutzend Kröten drin.

Interessant auch: Dort, wo der Hebel einer blanken Erpressung nicht existierte, beim CO2-Gesetz, versagte das Land seiner Regierung und dem Parlament die Gefolgschaft. Man wollte sich nicht zusätzlich belasten lassen mit dem Argument, dadurch werde das globale Klima gerettet, weil jedes Kind weiss, dass das Unsinn ist. Aber jedes Kind hätte auch wissen müssen, dass das Covid-19-Gesetz ein sehr bewusst zusammengesetztes Puzzle ist, bei dem die – unnötige – Angst ausgelöst wurde, ein fehlendes Teil sei verheerend für das Gesamtbild.

Ein Notrecht, das ohne Not kam, ist seit gestern eine Art Dauerzustand. Ein befristeter, sagt uns die Politik, aber wann hat ein Staat jemals neu gewonnene Macht einfach so auslaufen lassen? Man darf gespannt sein, was mit diesem Versprechen geschieht – und wann es plötzlich heisst, dass die Frist noch etwas Aufschub braucht.

Dasselbe gilt für das sogenannte Terrorismusgesetz, das bei echten Terroristen ein müdes Lächeln auslöst, wenn sie überhaupt mitgekriegt haben, was geschehen ist. Man werde die neuen Instrumente der Überwachung, der Festsetzung, des Hausarrests und so weiter mit Augenmass einsetzen, sagt der Bundesrat. Das Problem beim Augenmass ist, dass es keine feste Grösse ist, und es ist gerade bei Rechtssprechung Gift, wenn klare Regeln fehlen. Wenn die Tagesform eines Richters entscheidend dafür ist, wie etwas ausgeht, ist das tiefer Anlass zur Sorge.

Man muss ein tiefes Vertrauen in den Staat haben, um zu glauben, dass er ein Gesetz bringt, nur um es danach nicht auszuleben. Und das mit dem Vertrauen ist nach den letzten eineinhalb Jahren so eine Sache.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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