Zugegeben: Als Thurgauer nahe der Grenze, bessere ich hie und da mein Budget mit gezielten Einkäufen in Konstanz auf.
Doch das nationale Gewissen fordert danach immer wieder, in der Schweiz einzukaufen. Dieses Mal hatte es mich überzeugt und ich startete in die Kantonshauptstadt St.Gallen.
Es ist eine wunderschöne Fahrt durch die Wiesen und Felder des Thurgaus, üppiges Grün, dichte Natur, unverbaute Landschaften. Doch dann kam Wittenbach: Eine grosse Baustelle, an der noch mehr nichtssagende Wohnblöcke entstehen, unpersönlich, unattraktiv, grau in grau.
Genau am Ortsschild «St.Gallen» stand eine Gelbweste mitten auf der Strasse, eine Polizistin, die die anfahrenden Autos sondierte und mich, nach einem Blick auf das Nummernschild, auf einen Parkplatz leitete, wo vier Polizisten Auto und Papiere wie Geheimdienstler durchforsteten. Bei allem Vertrauen in unsere Polizei erweckt eine solche Kontrolle mulmige Gefühle und seltsame Gedanken machen sich breit: «Gelte ich als Thurgauer schon wie ein Ausländer als gefährlich?» oder glauben sie, dass 'TG = IS' steht?»
Eine einzige Frage: «Wohin fahren Sie und was machen Sie dort?» Spontan antwortete ich «nach St.Gallen zu einem Arzttermin.» Das war glatt gelogen. Ich stellte mir vor, dass bei der richtigen Antwort «zum Poschte» ein Verhör gefolgt wäre, etwa, ob ich dort Waffen oder Sprengstoff kaufen wolle.
In dieser kurzen Zeit hatte sich die volle Thurgauer Sonne in eine dichte Nebelwand verwandelt. Die Stadt zeigte sich trotz Maiwärme von einer sehr kühlen Seite. Zuerst die Ampelschaltungen: Acht von zehn Ampeln schalteten kurz vor mir auf Rot. Sitzt da jemand im Leitsystem und bremst Thurgauer absichtlich aus? Es folgten Baustellen, Umleitungen, Strassensperren. 20 Minuten bis Wittenbach, dann 25 Minuten bis ins Parkhaus des Neumarktes. Auch hier Baustellen, Umwege und penetranter Kalk- und Betongestank.
Die Hälfte der hier ansässigen Geschäfte gibt es auch in Konstanz, ich verglich die Preise und flüchtete auf den Roten Platz, der menschenleer war und das verteppichte Auto darauf schien sich vor Rost wegen der Nebelnässe darunter zu verstecken.
Die Multergasse ebenfalls trist und friedhofsleer, Vadian schaute würdevoll auf die Ruhe seiner Stadt wie zu seiner Zeit. Auf dem verwaisten Marktplatz wartete am Imbiss-Stand immerhin ein Kunde vor mir. Auf der neuen wellenförmigen Acrevis Bank-Bank war ich eine Bratwurschtlänge mutterseelenallein, symbolisch für die Gesamtsituation bettelte nur eine einzige Taube um meine Brotkrumen.
Und als mich vor dem Bahnhof ein Bettler anmachte, fühlte ich mich an mein gewohntes Konstanz erinnert, voller Leben, voller Schweizer Menschen, voller toller Angebote.
Kurzer umweltunfreundlicher Entschluss: Flucht durch den grünen Thurgau ins pralle deutsche Einkaufsparadies.
Wolf Buchinger (*1943) studierte an der Universität Saarbrücken Germanistik und Geografie. Er arbeitete 25 Jahre als Sekundarlehrer in St. Gallen und im Pestalozzidorf Trogen. Seit 1994 ist er als Coach und Kommunikationstrainer im Management tätig. Sein literarisches Werk umfasst Kurzgeschichten, Gedichte, Romane, Fachbücher und Theaterstücke. Er wohnt in Erlen (TG).
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.