Das zu Ende gehende Jahr bietet wiederkehrend die Möglichkeit, auf die vergangenen 12 Monate zurückzublicken und diese zu beurteilen. Erlauben Sie mir, ein paar persönliche Beobachtungen kundzutun.
Ich schätze das Konstrukt, in das ich geboren wurde – die Schweizerische Eidgenossenschaft – überaus. Nicht zuletzt dank unseres politischen Systems, das ich für eines der besten auf dem Planeten Erde halte. Kaum sonst wo kann, muss und darf man so viel über Gesellschaft, Altersvorsorge, Gesundheit, Landesverteidigung, Staatsverträge, Milchpreise oder wahre Liebe diskutieren und streiten. Unser System ist robust und partizipativ. Im Gleichen gibt es aber Spielregeln, die es einzuhalten gilt und die heuer teilweise auch strapaziert wurden.
Sie mögen sich erinnern, dass wir im Frühling über ein Verhüllungsverbot aka «Burka-Verbot» abgestimmt haben, das mit 51.2% einigermassen knapp angenommen wurde. Ein wahrlich grosses Problem in unserem Land, wenn man sich die zahlreichen Burka-Trägerinnen landauf landab vor Augen führt. Jedoch gilt es, des Volkes Willen zu akzeptieren und umzusetzen. Das sind die Spielregeln. Immerhin kennen die interessierten Leser und Leserinnen dank der Diskussion nun den Unterschied zwischen Burka, Niqab und Hidschab. Wenn das kein Kulturtransfer ist? Und, es mag Ironie des Schicksals sein, aber die Verhüllungen von Nase und Mund haben seither merkbar zugenommen.
Ein weiteres heisses Thema im Diskurs um unsere Gesellschaft war die Ehe für Alle, die vom Stimmvolk mit einer 2/3-Mehrheit angenommen wurde. Davor ging in Teilen der Bevölkerung die Angst vor psychisch verwahrlosten Kindern, anonymen Samenspenden und gar Sperma von Toten um. Schliesslich wollen homosexuelle Paare ja nicht nur heiraten, sondern eventuell auch eine Familie gründen. Warum soll das anders sein als bei heterosexuellen Menschen, die sich lieben? Spannend zu beobachten ist, dass genau jene konservativen und religiös geprägten Kreise, die im Rahmen der Corona-Massnahmen lauthals für individuelle Freiheit, Selbstverantwortung und gegen die Einmischung des Staats wettern, dies ein paar Monate zuvor anderen nicht so richtig zugestehen wollten. Aber hey, man soll nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.
Aussenpolitisch war das Ende der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der Europäischen Union der Kassenschlager in den Medien. Am 26. Mai hatte der Bundesrat nach 7 langen Jahren den Gesprächen den Stecker gezogen, was beim Gegenüber nicht gut ankam. Wir wollen nicht Mitglied der EU werden; müssen wir auch nicht. Da ist sich eine grosse Mehrheit in diesem Land wohl einig. Aber den Beziehungen mit dem wichtigsten Partner für Handel, Bildung, Energie und Kultur einen verlässlichen Rahmen zu geben, wäre sehr sinnvoll. Ja, Nein, vielleicht doch.
Die Eidgenossenschaft weiss es nicht. Diese Diskussion ist innenpolitisch blockiert. Jeder und jede weiss, warum ein solches Abkommen aufgrund seiner bzw. ihrer Partikularinteressen nicht funktionieren kann. Was fehlt, sind Denkerinnen und Visionäre, die fähig sind über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und wieder mal einen grossen Wurf wagen. Offenbar schweben die Erbsünde des Bundesrats von 1992 und der «Erfolg» von Christoph Blocher von damals noch immer wie eine dunkle Regelwolke über uns. Lieber zeigt man sich erstaunt über den erodierenden Marktzugang, den Ausschluss von Forschungsprogrammen oder das in der Ferne liegende Strommarktabkommen. Es wird Zeit, das Provisorium der Bilateralen Verträge hinter uns zu lassen und längerfristige Strukturen in der Beziehung mit der EU zu schaffen.
Ein Lichtblick zum Schluss: Der Ständerat hat in der Wintersession erfreulicherweise beschlossen, die Transparenz im «Chambre de Réflexion» künftig höher zu gewichten – und das nach 173 Jahren. Bis anhin wurde bloss bei Gesamt- und Schlussabstimmungen eine Liste der Ständerätinnen und Ständeräte publik gemacht. Der Grossteil des Abstimmungsverhaltens – so die umkämpften und interessanten Abstimmungen zu den Detailberatungen – werden zwar übertragen, aber nirgends in geeigneter Form publiziert. Bisher eine Unschönheit im gelobten politischen System.
Politik wird auch 2022 spannend bleiben – manchmal nervig, dann wieder unterhaltsam, oft konstruktiv. Geniessen Sie die Feiertage und freuen Sie sich auf kommende Debatten.
Jérôme Müggler ist Direktor der Industrie- und Handelskammer Thurgau.
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