Nach unfreiwillig distanzierten Wintertagen ist es in Bern wie in St.Gallen eine wahre Freude wieder strahlende Gesichter auf Terrassen zu sehen. Bald schon ist auch die kalte Sophie mitsamt ihren Eisheiligen vorbei…
Ja, die wärmere Jahreszeit tut uns gut. Klar gilt das nicht nur in Pandemiezeiten, aber derzeit ganz besonders. Denn wo Menschen sich wieder vermehrt draussen statt drinnen aufhalten, bleiben die Ansteckungsrisiken bei ähnlichem Verhalten geringer. Das Gegenteil erlebten wir letzten Herbst, als die im Sommer eingerissene Sorglosigkeit mit dem Wetterwechsel prompt die zweite Welle anschob. Auch und gerade in Gebieten wie der Ostschweiz, die von der ersten Welle noch weitgehen verschont geblieben waren. Inzwischen aber gibt es – trotz virulenter mutierten Varianten – auch deshalb Grund für Zuversicht, weil unser Zugang zu Impfstoffen steigt. So wird absehbar, wann auch jüngere Bevölkerungsschichten mit ihrem höheren Mobilitätbedürfnis sich effektiv schützen können.
Ist es ein Jahr nach der in der ersten Welle verbreiteten Verunsicherung Zeit für eine Bilanz? Wohl eher für eine Zwischenbilanz, auch wenn wir dazu gelernt haben.
So wurde anfangs die Bedeutung kleinster Aerosol-Partikel unterschätzt, die sich in mässig gelüfteten Innenräumen anreichern können. Dafür unterbanden Abstands- und Hygiene-Massnahmen zwar nicht die Covid- aber die fälschlicherweise oft verglichene winterliche Grippewelle. Ein Indiz dafür, wie gut viele die Verhaltensempfehlungen umsetzten. Dies bestätigt ein Vergleich mit dem nahen Ausland: Obwohl hiesige Behörden vergleichsweise mildere Massnahmen erliessen - so gab es in allen Nachbarländern tatsächliche ‘Lockdowns’, also harte Ausgangssperren - blieben die Kennzahlen dies- und jenseits unserer Landesgrenzen über weite Strecken vergleichbar.
Hat sich also der ‘helvetische Sonderweg’ bewährt? Jedenfalls kann man dem Grossteil unserer Bevölkerung ein gutes Zeugnis ausstellen. Soweit sie es selbst in der Hand hatten, also beispielsweise nicht in Heimen der Einschleppung in ihre Institution ausgesetzt waren, verhielten sich Angehörige der ‘Risikogruppen’ umsichtig genug, um ihre vorgezogene Impfmöglichkeit nutzen zu können. Das gelang auch dank bemerkenswerter Solidarität jüngerer Generationen, welche happige Zumutungen wie ermüdenden Fernunterricht bewundernswert zu meistern wussten.
Durchmischter ist die Behördenbilanz: Während der Bundesrat im Frühjahr 2020 die Notbremse gerade noch rechtzeitig zog, wurden bereits im Sommer erkennbare Warnsignale ignoriert und das Steuer erst im November wieder herumgerissen. Daher fielen die Schäden der zweiten Welle vergangenen Winter massiver aus, obwohl noch das ursprüngliche Virus dominierte. Schnell wurde klar, dass die eigentlich zuständigen Kantone es nicht schaffen, sich zu regional abgestimmtem Handeln zusammenzuraufen. Nun hat kleinräumiger Föderalismus viele Stärken, doch die in Pandemien matchentscheidende Geschwindigkeit und Effizienz gehört nicht dazu. Von daher ist die in der jüngsten Vernehmlassung von Ostschweizer Kantonen vernommene Skepsis gegen eine Rückkehr in oft willkürlich anmutende kantonale Regelungsvielfalt nachvollziehbar.
Da wir zum Glück nicht in einem Polizeistaat leben sondern in einer nach wie vor funktionierenden Demokratie, hängt die Wirkung behördlicher Anordnungen und Empfehlungen primär von deren Glaubwürdigkeit ab. Dem sollten wir also Sorge tragen. Während man sich anderswo über das hiesige Vertrauen in Volksentscheide wundert, fahren wir gut mit direktdemokratischen Instrumenten. Sogar die vom Parlament im temporären Gemischtwarenladen ‘Covid19-Gesetz’ beschlossene Unterstützung von Leidtragenden der im öffentlichen Interesse erlassenen Schutzbestimmungen lässt sich dem Volk per Referendum vorlegen. Klar wäre es bitter für schuldlos betroffene Kurzarbeitende, Gewerbetreibenden etc. würde nun eine trotzige Mehrheit das Kind mit dem Bad ausschütten. Denn mit einer Ablehnung der inzwischen situativ weiter entwickelten Unterstützungsmöglichkeiten verschwänden weder Gesundheitsrisiken noch der im Epidemiengesetz erteilte Volksauftrag. Sich deswegen vor demokratischen Entscheiden zu fürchten wäre jedoch verfehlt, zumal diese meist vernünftig ausfallen.
Sind Realitäten herausfordernder und komplexer als uns lieb sein kann, so begünstigt das Verschwörungstheorien. Logisch ertönt der Protest lautstarker Gegner schriller als das ermattete Seufzen jener, deren Solidarität uns so verlässlich durch die Krise trugen: von Intensivpflegeden bis zum Verkaufspersonal. Und klar läuft nicht alles optimal. Manches Wiehern des Amtsschimmels mag ähnlich grotesk wirken wie unter Nase oder Kinn getragene FFP-Masken. Dennoch scheint mir die Prognose zulässig, dass bereits beim 111-jährigen Jubiläum unserer Wideransiedlung dickschädliger Alpensteinböcke der Umgang mit noch immer präsenten Corona-Viren wieder souveräner ist. Könnte es sich also lohnen, auch bei nachvollziehbarer Unzufriedenheit etwas grosszügiger zu denken und den Blick auf Zusammenhänge nicht zu verlieren? So lassen sich auch Möglichkeiten erkennen. Möglichkeiten, wie sie noch nicht existierten in der letzten Pandemie, die unseren Kontinent vor vier Generationen heimsuchte: Damals forderte die Spanische Grippe in Europa mehr Leben als die Vernichtungsschlachten des vorhergehenden Weltkrieges.
Nutzen wir also unsere heutigen Möglichkeiten. Und wenn wir über Privilegien nachdenken, dann vielleicht auch über das hier selbstverständlich gewordene Privileg des Zugangs zu öffentlichen Services wie einem leistungsfähigen Gesundheits¬system – mitsamt Wahlfreiheit ob man sich mit einer hochwirksamen Impfung schützen lässt oder eben nicht. Doch selbstverständlich hat jede Freiheit auch ihren Preis, und Entscheide haben Konsequenzen. Wie schwer aber wiegt z.B. die kritisierte ‘Diskriminierung’ eines bald schon freiwillig gewählten Nichtzugangs zu Ferienflügen? Wie stossend sind hiesige Ungleichheiten in Relation zur Minderprivilegierten, die anderswo geboren weder absehbaren Zugang zu Schutzimpfungen haben noch zu Selbstverständlichkeiten wie sauberem Trinkwasser, genug zu essen oder freier Meinungsäusserung?
Unbestritten gehört klappern zum Geschäft. Doch manchmal drängt sich die Frage auf, ab welchem Level permanentes Jammern und ‘Fordern’ einzelner Interessenvertreter primär die eigene Glaubwürdigkeit gefährdet? Sicher leben wir in herausfordernden Zeiten, und die aktuelle Corona-Krise wird kaum die grösste davon sein. Doch verfügen gerade wir SchweizerInnen nicht auch über enorme Ressourcen und Möglichkeiten wie kaum eine Generation zuvor? Nutzen wir diese also, mit Herz und Verstand - und geniessen den Frühling erst recht!
Thomas Brunner (*1960) ist seit Dezember 2019 im Nationalrat. Er vertritt dort die Grünliberale Partei (GLP) des Kantons St.Gallen.
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