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Nicolas Lindt

Jagd ist eröffnet

Der Hass auf die Gesunden begann schon vor einem Jahr. Die Wut der maskentragenden Mehrheit auf die Minderheit jener, die maskenfrei und gesund bleiben wollten, nahm erschreckende Ausmasse an. 

Nicolas Lindt am 17. August 2021

Man wurde beschimpft, denunziert, bedroht. An der Maskenfrage zerbrachen ganze Freundschaften und Familien, eine ganze Nation.

Aber das war nur der Anfang. Am Wochenende las ich zwei Presseschlagzeilen, die wie rohe Gewalt auf mich wirkten. «Die Arroganz der Ungeimpften» hiess die Headline am Samstag. Und die andere, wie abgekartet, einen Tag später: «Jetzt muss Berset Impfgegner endlich zur Impfung zwingen».

Beide Leitartikel erschienen in den Blättern des TA-Media-Konzerns, und beide verlangten, verhohlen und unverhohlen, die Einführung eines Impfzwangs. Ihr Angriff richtet sich aber nicht pauschal gegen alle, die noch nicht zweimal geimpft sind, sondern gegen die «esoterischen und ideologischen Impfverweigerer». Denn die «Corona-Leugner» haben mit ihrer Stimmungsmache erreicht, dass Unentschlossene nach wie vor zögern, ob sie sich impfen wollen. Dieser Zustand dürfe nicht länger geduldet werden.

Ich schätze die aktiven Impfverweigerer auf 20 Prozent der Bevölkerung. Das ist eine grosse Zahl. Aber es ist eine Minderheit. Und diese Minderheit soll nun mit aller Härte diszipliniert werden. Der Bundesrat wird aufgefordert, die «Corona-Leugner» vom gesellschaftlichen Leben weitgehend auszuschliessen.

Dieselben progressiv sich gebärdenden Schreiber, die sonst jede Gelegenheit nutzen, um geächteten Minoritäten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, fordern jetzt, dass sich die Minderheit der Impfverweigerer dem Diktat der Stunde ergibt - oder mit unverhüllter Diskriminierung bestraft wird. Die Meinungsmacher der Medien und mit ihnen viele gleichgesinnte Politiker und Behördenmitglieder hoffen auf diese Weise erreichen zu können, dass gemässigte Impfverweigerer aus Angst vor den Konsequenzen aufgeben und sich die Spritze doch geben lassen. Sodass zuletzt - je enger die Schlinge gezogen wird - fast alle geimpft sind. Sodass zuletzt nur noch ein kontrollierbarer Kreis von Widerstand Leistenden übrig bleibt, der ins soziale Abseits gedrängt und nach Bedarf kriminalisiert werden kann.

Warum wollen sie das? Warum wollen sie «jeden erdenklichen Druck» auf die Uneinsichtigen ausüben? Warum blasen sie offen zum Halali auf andere Menschen? Weil sie böse sind?

Böse Menschen glauben nicht, dass sie böse sind. Die Scharfmacher, die solche Hetzkommentare schreiben, glauben nicht, dass sie zu weit gehen. Sie glauben, dass es im Interesse der ganzen Gesellschaft notwendig ist, so zu schreiben und so zu handeln. Sie glauben damit Gutes zu tun. Warum glauben sie das?

Kopfmenschen - Menschen, die nur mit dem Kopf, aber nicht mit dem Herzen denken - fühlen sich nur in Konzepten zuhause. In logischen Formeln. In Diagrammen. Wenn ihre Experten, die ebenfalls Kopfmenschen sind, ihnen wissenschaftlich erklären, dass ein Virus bekämpft werden muss und dass er nur bekämpft werden kann, wenn ALLE Menschen geimpft sind, dann glauben die Scharfmacher, dass es so ist. Dann genügt es nicht, dass nur jene sich impfen lassen, die sich dadurch geschützt fühlen wollen. Damit der Virus ausgemerzt werden kann, müssen sich logischerweise ausnahmslos alle impfen. Es geht ums Töten des Virus. Ums Liquidieren. Ums Wegmachen. Deshalb genügte vor ein paar Tagen schon eine einzige Infektion, und für Canberra, Australiens Hauptstadt, wurde ein neuer Lockdown verordnet.

Das ist Kopfmenschendenken extrapoliert. In diesem Denken ist kein Platz für irrationale Verläufe. Für unberechenbare Entwicklungen. Für unlogische Argumente. Für individuelle Wege und Lösungen. Für ein Leben mit Viren. Nein. Niemand darf ausscheren. Alle müssen mitmachen. Sonst funktioniert das Konzept nicht. Die Systematik. Die Strategie. Von oben diktiert. Zwingend autoritär. Und um so giftiger ist die Wut auf all jene, die sich den «wissenschaftlichen Fakten» verschliessen. Der Ton in den Leitartikeln vom Wochenende hat etwas Unheimliches. Weil man spürt, wieviel Aggression in den Sätzen lauert.

Die Weigerung der «Corona-Leugner», sich anzupassen und mitzumarschieren, macht die Scharfmacher in den Medien fast wahnsinnig. Wenn sie dürften, würden sie noch zu viel schärferen Waffen greifen. Sie würden möglicherweise sogar verlangen, dass für Ungeimpfte ein unbefristeter Lockdown gilt. Aber das dürfen sie nicht. Das passt nicht zur Schweiz. Die Schweiz ist gemässigt. Was sie noch wütender macht.

Ihr Hass ist vor allem aber deshalb so gross, weil die Impfverweigerer sie provozieren. Herzensmenschen, die nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen denken, sind für Kopfmenschen unerträglich. Sie begreifen ihr anderes Denken nicht. Sie begreifen nicht, warum diese Ungeimpften so selbstbewusst auf die kostenlose Gabe verzichten. Warum sie keine Angst vor Corona haben. Warum es ihnen genügt, dass sie sich gesund fühlen - wo doch die Krankheit überall lauert.

Deshalb diese von Hass gezeichneten Sätze. Es werden nicht die letzten sein. Die Jagd auf die, die mit dem Herzen denken, ist erst gerade eröffnet worden. Sie wird nicht ganz so erbarmungslos werden wie anderswo. Aber zweifellos unangenehm, auch in unserer schönen Schweiz. Es wird ein langer Kampf sein zwischen denen, die ans Krankwerden glauben und denen, die ans Gesundsein glauben. Doch der letzte Trumpf liegt in unseren Händen: Denn das Leben ist irrational, und die Jäger werden ermüden. Weil sie es nicht besiegen können.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. Neben dem Schreiben gestaltet er freie Trauungen und Abdankungen. Der Schriftsteller lebt mit seiner Familie in Wald und Segnas.

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