Ein Bild ist erst dann ein Bild, wenn es sich dreht - mit dem Fotografen mit drauf. Willkommen beim grossen Wettbewerb.
Ich schaue mir manchmal meine ersten Kunstwerke an: «Ich und meine Katze» oder «Ich und mein gebrauchter Fiat» oder «Ich und meine neue Frisur».
Oh ja, was waren das noch Zeiten! Einfach das Handy hochhalten und mit sich selbst im Vordergrund ein Objekt ablichten, das man mag. So habe ich es etwa 4000 Mal gemacht. Mit Erfolg. Denn mittlerweile habe ich 923 Freunde, mein grosses Ziel ist, die 1000 zu überschreiten.
Natürlich auf Facebook. Darauf schwöre ich, schliesslich bin ich seit Jahren dabei. Ich nehme den Auftrag des Firmennamens ernst und habe mir ein riesiges Buch mit meinem Gesicht angelegt, mehrfach gespeichert, damit ja nichts verloren geht.
Das Geile an diesem System ist die Zuverlässigkeit, mit der du mit jedem Bild, das du versendest, viele, viele Menschen erreichst, die das Schöne, das du erleben durftest, mit dir teilen. Ich muss auch nur ganz wenig schreiben, denn das Bild spricht für sich.
Und ein Wettbewerb, wie er nur unter echten Freunden stattfinden kann, findet täglich statt: wer inszeniert sich vor den besten Motiven am wirkungsvollsten? Ich scheine besonders begabt zu sein, denn meine hochemotionale Inszenierung auf der Autobahn «Ich und die Toten des Crashs mit drei Autos» ging um die ganze Welt.
Ich brauche keine altmodische Zeitung, kein verstaubtes Radio und kein langweiliges Fernsehen, ich bin berühmt geworden durch meine Tausenden von genialen Fotos auf Facebook, my love.
Ich werde massiv herausgefordert, denn die Ansprüche meiner Freunde steigen. Angefangen hat Anna mit ihrem Minivideo, wo sie elegant lächelnd mit dem Lift den Eiffelturm hinauffährt, oben aussteigt und dann sich selbst von der Seite zeigt, wie sie auf die Stadt schaut. Total beeindruckend.
Ich habe lange Nächte nachgedacht, habe geträumt und geschwitzt, bis ich eines Nachts die Erleuchtung hatte: die 360 Grad – Drehung. Ich habe es sofort umgesetzt und auf einem BonJovi - Konzert zuerst mich ganzgesichtig gezeigt, habe danach das Handy weiter nach hinten gehalten und mich langsam um die eigene Achse gedreht bis ich wieder mit der Bühne im Hintergrund triumphierend lächelnd zusammen mit BonJovi aufgehört habe.
Plötzlich war ich noch berühmter, doch alle haben diese neue und kreative Form sofort nachgeahmt und vergessen, dass ich die Erfinderin bin.
Ich habe nun systematisch begonnen, alle meine historischen Aufnahmen neu zu beleben: meine Katze und ich drehen sich im Kreis, mein alter Fiat fährt mit mir im Vordergrund zweimal durch einen Kreisverkehr und meine neue Frisur zeige ich ganz raffiniert in einem Spiegel, wie ich rundum aussehe, denn nur was sich dreht, wird angeguckt.
Ein kleines Problem muss ich allerdings noch in den Griff bekommen: wie kann ich die durchschnittlich 280 Videos, die ich täglich bekomme, anschauen? Ich schaffe höchstens zehn Prozent davon, aber nur, weil ich auf Arbeit daran arbeite. Ich habe erst einmal einen Gruss vorbereitet, den ich allen auf einmal senden kann: «Du bist eine Selfie-Queen! Mach weiter so! Ich freue mich auf deine nächste Produktion!»
Fazit: das echte, mit Wissen und Können gemachte Fotografieren wird nicht aussterben, es ist es schon.
Wolf Buchinger (*1943) studierte an der Universität Saarbrücken Germanistik und Geografie. Er arbeitete 25 Jahre als Sekundarlehrer in St. Gallen und im Pestalozzidorf Trogen. Seit 1994 ist er als Coach und Kommunikationstrainer im Management tätig. Sein literarisches Werk umfasst Kurzgeschichten, Gedichte, Romane, Fachbücher und Theaterstücke. Er wohnt in Erlen (TG).
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