Zurzeit sieht sich die Weltgemeinschaft mit einer der grössten Krisen der jüngeren Geschichte konfrontiert. An allen Fronten geht es ans Eingemachte.
Die Auswirkungen für die nächsten Jahre lassen sich nur abschätzen. Allenthalben wird debattiert, kommentiert und diskutiert, welcher Nationalstaat die Situation am besten meistert. Demgegenüber treten supranationale Organisationen von der Wahrnehmung her in den Hintergrund und wirken bisweilen unbeholfen. Hat der Nationalstaat also doch noch nicht ausgedient?
Was einen Nationalstaat ausmacht, wo seine Vor- und Nachteile liegen und worin sein Wert besteht, gibt immer wieder Anlass zu teils heftig geführten Debatten; insbesondere zwischen den politischen Polen. Während die einen den Nationalstaat als Auslaufmodell betrachten, sehen die anderen in ihm die Basis für politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Handeln. Entsprechend fordert die eine Seite, den Nationalstaat zugunsten eines supranationalen Gebildes zu opfern, wohingegen die andere Seite darauf pocht, in sämtlichen Belangen «unabhängig» zu sein. Wie ist es nun um den Nationalstaat im 21. Jahrhundert bestellt?
Identität stiften
Noch immer identifiziert sich das Gros der Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Nationalstaat beziehungsweise gelingt es dem Nationalstaat nach wie vor, für seine Citoyennes und Citoyens eine gemeinsame Identität zu stiften. Ob Waadtländerin oder Waadtländer, Tessinerin oder Tessiner, Bündnerin oder Bündner und St.Gallerin oder St.Galler: Am 1. August fühlen sich (beinahe) alle als Schweizerin oder Schweizer. Hiermit verbunden sind das Wissen um eine gemeinsame Geschichte, das Vertrauen in Exekutive, Legislative und Judikative wie auch das Bewusstsein, Teil einer historisch gewachsenen Gemeinschaft zu sein. Dies vermag bisher nur ein Nationalstaat zu stiften.
Legitimität schaffen
Ein Staatswesen kann langfristig nur bestehen, wenn die Bürgerinnen und Bürger dessen Ordnung als legitim erachten. Dies setzt innerhalb der Bevölkerung einen wiederum historisch gewachsenen Grundkonsens voraus, wie ein Staatswesen organisiert sein soll. Hierbei spielen Unterschiede und Gemeinsamkeiten sprachlicher, historischer, territorialer, ökonomischer, religiöser oder politischer Natur eine Rolle. Der Nationalstaat bildet hierbei noch immer die passende Klammer. So besteht dieser Grundkonsens in der Schweiz darin, dass es vier gleichberechtigte Landessprachen gibt, die Wirtschaft marktwirtschaftlich organisiert ist, Religionsfreiheit herrscht und das politische System direktdemokratische Elemente aufweist.
Gemeinsinn fördern
Eine gemeinsame Identität und das Vertrauen in die staatliche Ordnung bilden alsdann die Grundlage für gemeinschaftliches politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Handeln. Sowohl die Citoyennes und Citoyens als auch der Nationalstaat fördern hierdurch den Gemeinsinn. Jede und jeder trägt je nach seinen Fähig- und Fertigkeiten seinen Teil zum Gemeinwohl bei. Dies stärkt wiederum das Bewusstsein, Teil einer historisch gewachsenen Gemeinschaft zu sein, wie auch das Vertrauen in die Institutionen. In der Schweiz tritt dieser Effekt noch stärker zutage, als viele Aufgaben in Miliz erledigt werden. Gleichzeitig Unternehmerin resp. Unternehmer und Politikerin bzw. Politiker sowie Milizoffizier zu sein, sollten einander nicht ausschliessen, sondern ergänzen. Dass dies in den letzten Jahren weniger geworden ist, kann nur bedauert werden.
Die Zeit ist noch nicht reif
Auch wenn gewisse Personen- und Interessengruppen den Nationalstaat am liebsten möglichst schnell in den Abfalleimer der Geschichte verbannen würden, wird dies solange nicht der Fall sein, wie es supranationalen Gebilden nicht gelingt, Identität zu stiften, Legitimität zu schaffen und Gemeinsinn unabhängig nationaler Interessen zu fördern. Die derzeitige Krise ist in diesem Zusammenhang ein Lehrstück par excellence. Dies ist keinesfalls als Votum gegen eine engere Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn aufzufassen, nur ist die Zeit für weniger Nationalstaat noch nicht reif.
Michael Lindenmann (*1989) studierte Geschichte und Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft an den Universitäten Zürich und Basel. Nach Stationen bei Swisscom und einer Zürcher PR-Agentur zog es ihn wieder in die Ostschweiz, um für eine St.Galler PR-Agentur zur arbeiten. Nach sechs Jahren wechselte er als Head of Communications and Community Management zur St.Galler Agentur am Flughafen. Er lebt in der Äbtestadt Wil.
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