Hilfe! Wie kommt man von Paris in die Ostschweiz zurück?
Dass die Freiheit in der Seele eines jeden Franzosen genetisch fest verankert sein muss, erfährt man mehrmals pro Jahr bei der Eisenbahn. Es ist Routine geworden für die Einheimischen; ein Tourist kann nur darüber staunen, wie der Franzose gelernt hat, diszipliniert mit dem Warten umzugehen. Man nähert sich dem Bahnhof und wird schon vorgewarnt durch die Titelseiten an den vielen Zeitungsständen: «Streik bei der SNCF, wir sagen, welche Züge fahren!»
Als Nichtfranzose neigt man zum positiven Fatalismus und denkt, dass aus Gerechtigkeitsgründen internationale Züge mit höchster Wahrscheinlichkeit fahren müssen. Doch die endlose Schlange der Taxis, deren Fahrer in Gruppen herumstehen, lässt Böses ahnen. Und tatsächlich: In der Halle des Bahnhofs herrscht Stille wie in einem Museum; Hunderte von verhinderten Reisenden starren nicht eine Mona Lisa oder ein blaues Pferd an, die hoffnungsvollen Blicke kleben auf den elektronische Anzeigetafeln, die an allen Bahnsteigen in flackernden roten Buchstaben mitteilen: Wegen eines Arbeitskampfes gegen die Rentenpläne der Regierung fährt bis auf weiteres kein Zug. «Kuba – Moskau – Kommunismus assoziiert man, Arbeitskampf, Völker hört die Signale, Tod oder Sieg!»
Und die Reisenden warten geduldig seit Stunden; einige, ihrem Aussehen nach zu urteilen, schon die ganze Nacht; keiner wirkt böse oder aufgebracht; offensichtlich haben alle tiefes Mitgefühl zu den stark benachteiligten Lokführern, die allerdings laut Statistik zu den Besserverdienenden zählen mit etlichen Privilegien wie Pensionierung mit 55 Jahren bei achtzig Prozent des letzten Lohnes.
Die Hoffnung auf eine baldige Abfahrt lässt die Reisenden verharren; Unterstützung bei anderen Stellen gibt es nicht: Die «Information» hat «aus Sympathie mit den Streikenden» geschlossen, das Bahnhofsrestaurant schenkt mangels Nachschub nur noch Leitungswasser mit Chlorgeschmack aus, die Polizeistation ist nur nachts besetzt und die zahlreichen Billettschalter sind dunkel.
Nur am hintersten scheint etwas Licht, welch ein Wunder. Ein gelangweilter Angestellter sitzt hinter einem handgeschriebenen Schild «keine Auskünfte, nur internationale Fahrscheine». Ich frage dennoch, wann ein Zug in die Schweiz geht, ob eine Hoffnung besteht, dass überhaupt noch einer fährt. Der Mann gähnt, zieht genüsslich an seiner Gauloises, hustet und zeigt mit dem Daumen hoch zur Anzeigetafel. Wut kommt auf, denn Termine warten, und nichts ist schlimmer als die Ungewissheit, ob man heute oder morgen oder erst in ein paar Tagen heimkommt.
Ich vergesse alle Höflichkeitsregeln und beginne erregt zu fragen: «Wer streikt denn eigentlich?»
Daumen zur Anzeige.
«Warum streiken die?»
Daumen zur Anzeige.
«Was habe ich als Ausländer damit zu tun?»
Keine Reaktion.
«Gibt es vielleicht einen Hinweis auf ein Ende des Streiks?»
Daumen zur Anzeige.
So viel Unhöflichkeit und Nonchalance ist mir noch nie begegnet; meine Wut steigert sich noch und ich schreie ihn an: «Ich verlange, sofort einen Verantwortlichen der Streikenden zu sprechen!»
Mein Gegenüber zeigt zum ersten Mal in unserem kurzen Gespräch einen Moment der Anteilnahme. Er lächelt mich an mit dem Minimum an Gesichtsveränderung, die ein Lächeln gerade noch so erkennen lässt, sagt langsam und mit sonorer Stimme, unnatürlich und überbetont intoniert wie bei Charles de Gaulles, Georges Pompidou, Macron und all den andern Staatspräsidenten, bevor er das Licht ausschaltet, die kleine Sprechklappe zuknallt und sich mit Schwung auf seinem Stuhl von mir wegdreht: «Wir sind Franzosen – und wir nutzen unsere Freiheit!»