logo

Adrian Zeller

Volkes Stimme

Volksvertreter, die auf politische Korrektheit pochen können an Wahlen und Abstimmungen unliebsame Überraschungen erleben; es sei denn, sie werfen ab und zu einen Blick in die Kommentarfenster im Internet.

Adrian Zeller am 05. November 2018

Wenn es um die demokratische Kultur geht, liegen die Meinungen bezüglich Internet diametral auseinander: Die einen sehen in den Meinungsplattformen das Absacken des politischen Debattenniveaus. Statt Meinungsbildung durch den Wettbewerb der Argumente würden unter bizarren Nicknames vor allem Hasskommentare und Stammtischargumente publiziert. Andere sehen im Gegensatz dazu im World Wide Web den ersehnten Traum eines basisdemokratischen Forums verwirklicht.

Das Internet als Stärkungsmittel für die Demokratie oder als Förderer für deren Verluderung? Nicht alle haben den Mut, mit eigenem Namen in den öffentlichen Diskurs einzusteigen.

An einer Gemeindeversammlung aufzustehen und die Behörden zu kritisieren braucht Zivilcourage. Nicht jede und jeder verfügt über sie. Es ist gehässigen Gegenwortmeldungen und mit nachfolgenden beruflichen oder privaten Nachteilen zu rechnen. Bezeichnenderweise erzählen Politiker, dass ihnen einzelne Bürger zuraunen, sie würden ihre Partei wählen, aber aus Geschäftsinteresse niemals öffentlich dazu stehen.

Experteneinschätzungen im Vorfeld von Abstimmungen und Wahlen erwiesen sich öfters als Verkennung der Stimmung in der Bevölkerung. Eine Erklärung für das völlig unerwartete Ergebnis eines Urnengangs kann die sogenannte «schweigende Mehrheit» sein. Sie schreibt keine Leserbriefe, sie steht an keiner Gemeindeversammlung auf, und sie will nicht in Wahlkampfinseraten als Unterstützer genannt werden. Aber womöglich schreibt sie als «Motzerin», «Eidgenoss» oder «Patriot» in Meinungsforen.

Nirgends äussert sich «Volkes Stimme» ungefilterter als im Internet. Es ermöglicht jenen ein Sprachrohr, die verächtlich von der «Classe politique» sprechen oder die sich über «die, die in Bern doch machen, was sie wollen» ärgern.

So gesehen sind die Kommentarspalten in den Onlinemedien, die Posts in den Sozialen Medien sowie die Blogs sensible Seismografen für die Befindlichkeit von Teilen der Bevölkerung.

Politikerinnen und Politiker sind gut beraten, ab und zu einen Blick in diese Meinungsgefässe zu werfen, damit sie von Wahl- oder Abstimmungsergebnissen nicht auf dem falschen Fuss erwischt werden. Das Internet bietet die Chance, gesellschaftlich Gärprozesse und Schwelbrände frühzeitig wahrzunehmen.

Demokratie ist die Regierung des Volkes, und dieses äussert sich nicht stets mit wohldurchdachten Argumenten; im Extremfall geht es auch mal auf die Strasse. Als beispielsweise vor rund 20 Jahren die Schliessung der Spitäler Rorschach und Wil erwogen wurde, bildeten sich in beiden Städten Demonstrationszüge. Die Schliessungspläne kosteten dem damaligen Gesundheitsdirektor den Sitz. Erneut stehen Spitalschliessungen im Kanton St. Gallen zur Diskussion, wieder brodelt es in den entsprechenden Gemeinden.

Rustikal formulierte Unmutsäusserungen im Internet sind demokratische Stellungnahmen, die im Staatskundeunterricht nicht Bestnoten erreichen würden. Man kann sie naserümpfend in die Populismus-Ecke drängen; damit ist nichts gewonnen. Der öffentliche Diskurs lässt sich nicht von Forderungen nach Fairness und Sittlichkeit bändigen.

Volksvertreter wählen nicht ihr Wunschvolk, das Volk wählt jene, die sie als Interessenvertreter für fähig hält; jenseits aller politischen Korrektheit.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Adrian Zeller

Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.