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Serie: St.Galler Justizvollzug

Herr Fausch, wie kamen Sie ins Gefängnis?

Warum wird jemand Gefängnisleiter und was tut ein solcher den ganzen Tag? «Die Ostschweiz» hat mit Silvio Fausch gesprochen. Seit ein paar Monaten leitet er das Regionalgefängnis Altstätten und berichtet nun aus seinem Alltag.

Michel Bossart am 12. Dezember 2022

Ende 2021 zählte das Bundesamt für Statistik schweizweit 7562 Inhaftierte. Davon sind derzeit 45 im Regionalgefängnis Altstätten inhaftiert. «Die Ostschweiz» hat mit dem Obertoggenburger Silvio Fausch gesprochen: Der 40-jährige ausgebildete Fachmann für Justizvollzug leitet seit dem 1. August 2022 das Regionalgefängnis Altstätten.

Herr Fausch, sind Sie in Altstätten gut gestartet?

Ja, das kann man sagen. Ich wurde vom Team und den anderen Geschäftsleitungsmitgliedern herzlich aufgenommen und die ersten drei Monaten waren geprägt vom Kennenlernen von Menschen und des Amtes Ich konnte bereits viele Dinge hinzulernen.

Zum Beispiel…?

Vorher hatte ich noch nie Berührungspunkte mit Altlastensanierungen.

Meinen Sie das wörtlich oder im übertragenen Sinne?

Im wörtlichen: Das Gefängnis wird um- und teilweise neu gebaut und passt sich so den Gegebenheiten eines modernen Justizvollzuges an.

Wollten Sie eigentlich schon immer Gefängnisleiter werden?

(lacht) So direkt natürlich nicht. Aber: Ich wollte schon immer mit Menschen arbeiten und hier kann ich den inhaftierten Personen Perspektiven schaffen für ein eigenverantwortliches Leben ausserhalb der Kriminalität. Es hat sich gezeigt, dass der Rahmen der totalen Institution zu mir passt. Ein absoluter Freigeist tut sich in dieser Institutionsform, die man zum Beispiel auch von Klöstern oder psychiatrischen Kliniken kennt, wohl eher schwer. Zum Beispiel in der Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen ist das Handeln geprägt vom Ziel, Rückfälle in die Kriminalität zu verhindern und potenzielle Opfer zu schützen. Dabei ist die Wiedereingliederung der Inhaftierten in die Gesellschaft, neben der Durchsetzung des stattlichen Strafanspruchs, eine zentrale Aufgabe. 99 Prozent der Menschen kehren in ein Leben ausserhalb der Mauern zurück.

Wie kamen Sie denn «ins Gefängnis»?

Ich habe Polymechaniker gelernt, in der Finanzbranche gearbeitet und habe dann in die Sicherheitsbranche gewechselt, wo ich nach kurzer Zeit eine Führungsposition innehatte. Nach fünf Jahren in der privaten Sicherheit habe ich meine erste Stelle als Gruppenleiter im Justizvollzug angetreten. Vorher hatte ich schon leitende Funktionen bei J+S, in der Privatwirtschaft der Armee und der Feuerwehr. Grundsätzlich gilt: Wer im Justizvollzug arbeiten möchte, braucht eine abgeschlossene Berufsausbildung oder die Matura, einen einwandfreien Leumund und sollte soziale Kompetenzen mitbringen sowie gerne mit Menschen, die verschiedene Biografien mitbringen, arbeiten.

Haben Sie Ihre Berufswahl auch schon mal bereut?

Ganz ehrlich: nein. Natürlich gibt es auch unangenehme Situationen, zum Beispiel wenn eine inhaftierte Person eine Krise hat und gewalttätig gegen Menschen und Sachen wird. Eine Inhaftierung bedeutet immer ein grosser Einschnitt. Die Suizidalität ist gegenüber der Normalbevölkerung stark erhöht. Diese Menschen befinden sich in einer Ausnahmesituation. Manchmal sind sie so verzweifelt, dass sie sich verletzen oder gar umbringen wollen. Das gehört zu unserem Alltag und ich bin jedes Mal froh, wenn wir etwas beitragen können und die Situation glimpflich ausgeht.

Bitte beschreiben Sie unserer Leserschaft einen typischen Alltag eines Gefängnisleiters.

Morgens um 7 Uhr ist Schichtübergabe, an der ein interdisziplinärer Austausch stattfindet und alle auf den aktuellen Stand zu den einzelnen inhaftierten Personen gebracht werden. Das kann zum Beispiel eine Absprache mit dem Seelsorger sein, der eine Weihnachtsfeier organisieren möchte, oder mit der Sozialarbeiterin, dem Yogalehrer oder der Therapeutin… Viele Termine habe ich wegen des Erweiterungsbaus und der Altlastensanierung und dann führe ich auch Gespräche mit den Inhaftierten. Da kann es zum Beispiel um Erklärungsbedarf bei Verfügungen über Reststrafen gehen, Anträge und andere Anliegen…

Kann da jeder einfach mit seinen Anliegen zum Gefängnisleiter spazieren?

Inhaftierte Personen haben das Recht, einmal in der Woche mit jemandem von der Gefängnisleitung zu sprechen. Das muss aber nicht unbedingt mit mir persönlich sein.

Muss man ein Gefängnis eigentlich wirtschaftlich führen?

Wir erbringen einen wichtigen gesellschaftlichen Auftrag, der mit Steuergeldern finanziert wird. Der sorgfältige Umgang mit den öffentlichen Geldern und die Einhaltung des Budgets sind wichtige Grundsätze. Im Vordergrund steht es die inhaftierten Personen bestmöglich auf ein straffreies Leben vorzubereiten.

Wie gross ist das Regionalgefängnis Altstätten?

Derzeit haben wir 45 Haftplätze. Inhaftierte Personen haben verschiedene Haftformen und unterschiedliche Haftgründe. Am Anfang eines Gefängnisaufenthalts steht ein Tatverdacht für eine Straftat, die für uns zweitrangig ist. Bei uns steht der Beziehungsaufbau im Vordergrund. Wir glauben an die Entwicklung eines Menschen und haben den Anspruch, dass wenn eine straffällige Person uns wieder verlässt, wir eine Entwicklung anstossen können und Haftschäden möglichst gering sind. Wir sorgen für einen geregelten Tagesablauf, bereits das ist für viele nicht selbstverständlich.

Sie haben es angesprochen: Bis 2028 sollen die Gefängnisplätze in Altstätten beinahe verdreifacht werden. Sind die St. Galler derart kriminell, dass es diesen Ausbau braucht?

(lacht) Nein, das hat andere Gründe: Ein moderner Justizvollzug soll menschwürdig sein. Knapp die Hälfte unserer Plätze sind für Menschen, die in ausländerrechtliche Administrativhaft geplant. Die Erweiterung des Regionalgefängnisses Altstätten ist Teil der St.Galler Gefängnisstrategie und führt dazu, dass die alten Polizeigefängnisse in Bazenheid, Widnau, Flums und Gossau geschlossen werden. Sie sind veraltet und können heute nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden.

Wie lange bleiben denn die Häftlinge im Durchschnitt bei Ihnen?

In den Jahren von 2015 bis 2021 waren das 75 Tage. Es gibt aber inhaftierte Personen, die nur drei Tage hier sind und andere, denen eine mehrjährige Strafe bevorsteht.

Können Sie etwas über die demografische Zusammenstellung der Häftlinge sagen?

Zurzeit haben wir nur Männer, die inhaftiert sind, obwohl das Gefängnis auch für weibliche Personen eingerichtet ist. Rund die Hälfte der inhaftierten Personen hat einen Migrationshintergrund. Dabei ist aber keine bestimmte Weltregion überproportional vertreten. Buntgemischt halt. Strafffälligkeit scheint eine Domäne junger Männer zu sein. Die meisten inhaftierten Personen sind zwischen 25 und 40 Jahre alt. Sehr selten haben wir Personen, die schon älter als 65 sind. Die Untersuchungshaft von Minderjährigen wird im Jugendheim Platanenhof vollzogen.

Haben Sie auch schon Ausbrüche erlebt?

Indirekt war ich einmal involviert, als eine inhaftierte Person, die in die psychiatrische Klinik eingewiesen worden war, von dort entwichen ist. Klassische Ausbrüche gibt es ganz selten; Am häufigsten sind Entweichungen bei einem Hafturlaub oder bei externen Terminen.

Wie nahe an sich lassen Sie die Schicksale Ihrer Schützlinge herankommen?

Wir arbeiten mit Menschen und der Mensch steht im Mittelpunkt. Selbstverständlich geht mir zum Beispiel der Tod eines nahen Familienmitglieds oder andere Schicksalsschläge von einer inhaftierten Person nahe und lässt mich nicht kalt. Hier gilt es, das Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz auszuhalten. Beziehung und Unterstützung anzubieten und sich aber auch wieder abzugrenzen.

Wann empfinden Sie das Schweizer Justizsystem als zu hart und wann zu lasch? Man hört ja immer wieder den Vorwurf der Kuscheljustiz…

Unser Justizsystem beruht auf der Rechtsstaatlichkeit und daran glaube ich. Ich befinde mich in einer Exekutivfunktion. Ich muss die bestehenden Gesetze umsetzen. Die Anordnung von Untersuchungshaft ist ein starker Eingriff. Das ist weit weg von «Kuscheljustiz» – im Gegenteil.

Gibt es auch schöne Anekdoten aus dem Gefängnis?

Wir erfahren nicht sehr oft direkte Dankbarkeit. Umso schöner ist es, wenn sich eine inhaftierte Person beim Austritt für den respektvollen und menschlichen Umgang bedankt.

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Autor/in
Michel Bossart

Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).

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