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Rede zur Landsgemeinde

Landammann Roland Inauen: «Seien wir auf der Hut: Keine politische Entwicklung ist unumkehrbar»

Unter anderem ist die Totalrevision der Kantonsverfassung Thema an der Appenzeller Landsgemeinde. Landammann Roland Inauen blickt in seiner Eröffnungsrede zurück auf die Entstehungsgeschichte. Hier seine Äusserungen im Wortlaut.

Die Ostschweiz am 28. April 2024

Wir sind heute an der Landsgemeinde zusammengekommen, um unter anderem über die Totalrevision unserer Kantonsverfassung zu befinden. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick in deren Entstehungsgeschichte zu werfen.

Am 24. Wintermonat 1872 versammelten sich die stimmberechtigten Männer von Appenzell auf diesem Platz zu einer ausserordentlichen Landsgemeinde. Einziges Traktandum war die neue Kantonsverfassung. Die Landsgemeinde verlief völlig ruhig. Es waren nur befürwortende Voten zu hören. Gemäss Berichterstattung herrschte bei den Regierenden grosses Aufatmen, als sich ein deutliches Händemehr zugunsten der neuen Verfassung erhob. Die Erleichterung auf Seiten der Regierung war verständlich, denn dieser finalen Abstimmung ging ein 24 Jahre langes, hartnäckiges, ja geradezu verzweifeltes Ringen um die neue Verfassung voraus. An zwei Landsgemeinden (1869 und 1871) wurde der Entwurf des jeweiligen Verfassungsrates abgelehnt. An der Landsgemeinde von 1869, die in der Pfarrkirche stattfand, kam es zu tumultartigen Szenen. Redner wurden überschrien; die einen wollten abstimmen, die andern unter keinen Umständen. Der Standespfarrer liess mit den Kirchenglocken Sturm läuten und schliesslich konnte er mit Hilfe der Rhodshauptleute für Ordnung sorgen.

Nach diesem Desaster begannen die führenden Köpfe einzusehen, dass eine neue Verfassung nur auf einem versöhnlichen Mittelweg zu erreichen war. Der ausgearbeitete Entwurf für die ausserordentliche Landsgemeinde von 1872 versuchte deshalb erfolgreich, einen Kompromiss zwischen liberalen und konservativen Ideen zu finden.

Die Ausgangslage war damals eine komplett andere als heute: Das Bundesrecht verlangte zwingend verschiedene Neuerungen in der Kantonsverfassung, die in der Folge sehr kontrovers und ausufernd diskutiert wurden. Heute sind wir in der vergleichsweisen komfortablen Lage, dass wir bereits eine bundesrechtskonforme Verfassung haben, und deshalb keine vom Bund geforderten, elementaren Neuerungen einführen müssen. Dieser Umstand gibt uns die Freiheit, lediglich eine Nachführung vorzunehmen, Lücken zu schliessen und offensichtliche Mängel zu beseitigen. Grössere inhaltliche Neuerungen sollen nachgelagert auf der Grundlage von Einzelvorlagen diskutiert und in jedem Fall von der Landsgemeinde beschlossen werden. Diese Neuerungen werden - das kann man jetzt schon sagen - ein erhebliches Diskussionspotential haben, und ohne Kompromissbereitschaft auf allen Seiten kaum erfolgreich in die rechtliche Ordnung unseres Kantons aufgenommen werden können.

Die neue Kantonsverfassung trat am 27. April 1873, in Kraft und veränderte Appenzell Innerrhoden nachhaltig. Sie versuchte, modernes Verfassungsdenken mit den staatsrechtlichen Gewohnheiten des Kantons und mit der Bundesverfassung von 1848 so gut als möglich in Einklang zu bringen. Es gelang ihr – und das war ihr Erfolgsrezept –, in verschiedenen Bereichen elementare Neuerungen einzuführen, die bis heute Bestand haben. Die markanteste war sicher die Ablösung der Rhoden durch die Bezirke. Die Staatsstruktur des Kantons wurde damit komplett umgekrempelt. Aber auch die Behördenorganisation wurde gestrafft, indem die Standeskommission geschaffen und die Zusammensetzung des Grossen Rates neue definiert wurde. Die wohl wichtigste Neuerung im Sinne der Gewaltenteilung war die Schaffung einer unabhängigen Judikative. Das war die Geburtsstunde unserer Gerichte. Auf der anderen Seite entzog man den Räten die richterlichen Funktionen weitgehend. Elementar war der Schutz der individuellen Freiheitsrechte, die der Staat neu garantierte. Dazu gehörten zum Beispiel die Niederlassungsfreiheit oder die Gewerbe- und Glaubensfreiheit. Weitgehend unangetastet blieb hingegen die Landsgemeinde.

Die neue Innerrhoder Verfassung von 1872 war mit 48 Artikeln die kürzeste aller Kantone. Es überrascht deshalb nicht, dass sie schon bald Ergänzungen erfuhr. Im Laufe von 152 Jahren wurde sie 138 Mal angepasst, ergänzt und ertüchtigt. Die wohl wichtigste Änderung erfuhr sie 1992. Damals wurde Art. 16 «dem Richterspruch von Lausanne» (Zitat aus dem Landsgemeindemandat 1992) angepasst und so das Frauenstimmrecht auch in der Kantonsverfassung verankert.

Dieser kurze historische Abriss zur Entstehungsgeschichte unserer Verfassung zeigt aber auch, dass sich die Verfassungsväter und alle, die die Verfassung im Laufe von anderthalb Jahrhunderten wiederholt revidiert haben, bei aller Zwietracht in einem Punkt absolut einig waren: An den Grundfesten dieses Kantons, an der Landsgemeindedemokratie und am Rechtsstaat wird nicht gerüttelt. Dieses unausgesprochene Commitment war und ist auch Richtschnur für die Totalrevision der Kantonsverfassung, über die wir heute abstimmen.

Tragen wir Sorge zu diesem Selbstbekenntnis, das gleichzeitig Selbstverpflichtung ist. Tragen wir Sorge zu unserer Kultur des Kompromisses. Wer kompromissbereit ist, ist um Entgegenkommen, Ausgleich und Versöhnung bemüht; er oder sie bringt Verständnis für andere Meinungen auf. Demokratie ist der beste Nährboden für ein friedliches Miteinander.

Doch seien wir auf der Hut: Keine politische Entwicklung ist unumkehrbar. Keine Demokratie bleibt eine, nur weil sie schon lange eine war. Dafür gibt es leider zu viele Beispiele – auch in der Gegenwart und leider auch in Europa. Demokratie will gelernt sein und muss geübt werden.

Eine gute allgemeine Schulbildung ist eine entscheidende Voraussetzung für ein demokratisches Staatswesen. Leider stand es um die Schulen im Kanton Appenzell I.Rh. in der Zeit, als die bisherige Verfassung erarbeitet wurde, nicht zum Besten. Das können wir einem Inspektionsbericht entnehmen, den der Bundesrat kurz nach der Verankerung der allgemeinen Schulpflicht in der neuen Bundesverfassung – das war vor genau 150 Jahren – in Auftrag gegeben hatte.

In seinem Bericht bemängelte der liberale St.Galler Landammann und Ständerat Friedrich von Tschudi, der als Inspektor eingesetzt wurde, u.a. die ungenügende Schulzeit, die unzähligen Absenzen, die Anstellung unfähiger Lehrpersonen und das schlechte Schulmobiliar. Auch von den Schulräten und der Schulaufsicht war Tschudi alles andere als begeistert. Beeindruckt war er hingegen von einem Schulpräsidenten, der weder lesen noch schreiben konnte und mit «umso grösserer Liebe alles für die Schule tut, damit von der jüngeren Generation die von ihm so tief beklagten Nachteile der Unwissenheit abgewendet werden.»

Die Landesschulkommission des Kantons Appenzell I.Rh. nahm den Bericht Tschudis ohne grosses Murren zur Kenntnis und traf umgehend Anordnungen zur Verbesserung der Übelstände. Im Rückblick markieren die Verankerung der allgemeinen Schulpflicht in der Bundesverfassung von 1874 und der Inspektionsbericht von Tschudi den Beginn eines geregelten und modernen Schulbetriebs in unserem Kanton. Zum Jubiläum «150 Jahre allgemeine Schulpflicht» erinnern wir uns dankbar der damaligen Schulverantwortlichen.

Kehren wir zurück zur Verfassung und stellen wir uns die Frage: Wie viele Stimmberechtigte haben am 24. Wintermonat 1872 über die neue Kantonsverfassung abgestimmt, die nicht richtig lesen und schreiben konnten? Der bereits erwähnte Schulpräsident wird bei weitem nicht der einzige gewesen sein. Umso grösser ist unsere Hochachtung und unser Dank gegenüber dieser Generation, die den grossen und heftigen Verfassungskampf für uns ausgetragen und mit ihrer bescheidenen Schulbildung das zentrale Rechtsdokument unseres Kantons geschaffen hat. Dieses sichert seit über 150 Jahren die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger und bestimmt gleichzeitig die Grundlinien der Staatstätigkeit. Auf dieser Grundlage konnte ein tragfähiges, freiheitliches und prosperierendes Staatsgebilde aufgebaut werden. Die Bausubstanz unserer Verfassung ist grundsolide. Lasst uns heute die sorgfältige Renovation dieses Gebäudes abschliessen. Die Erneuerung von Teilen des Innenausbaus wird in einer zweiten Etappe folgen. Dank gebührt den Gründervätern aber auch für ihre Kompromissbereitschaft und ihre Konzilianz. Sie und ihr Weitblick sind uns leuchtende Vorbilder für unsere tägliche politische Arbeit.

In diesem Sinne begrüsse ich Sie alle, die Sie heute an die Landsge-meinde gekommen sind. Sie nehmen damit Ihre Verantwortung als Stimmbürgerin und Stimmbürger wahr. Und Sie befassen sich mit der Zukunft unseres Kantons. Besonders begrüsse ich jene, die dieses Jahr erstmals an der Landsgemeinde ihr Stimm- und Wahlrecht ausüben können. Ebenfalls begrüsse ich die Älteren unter uns. Es freut mich sehr, dass auch Sie die Geschicke unseres Kantons immer noch mitbestimmen. Ebenso begrüsse ich all jene, die die Landsgemeinde per Livestream – hier im Kanton oder in der weiten Welt – mitverfolgen und so ihr Interesse an unserem politischen Geschehen bekunden.

Roland Inauen, Regierender Landammann

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